Warum mein Studienabbruch richtig war

Neustart by Colours

Erlaubt sich heute, sein Leben zu leben: Colours.

Für einen Neustart braucht es Mut. Studienabbruch nach sieben Semestern, kurz vor dem Ziel? Das wagen nur Wenige. In seinem DeSelfie berichtet der 25jährige Studierende Colours von seiner persönlichen Entwicklung  in Richtung “wahres Ich”. Er schreibt über seinen Weg der Selbstreflexion. Über sein „Geschafft“ – ehrlich, mutig und reflektiert.

Jeder Neubeginn startet für mich gewöhnlich mit den gleichen Fragen:

Erstens: Was erwartet mich?
Zweitens: Wird es mir Spaß machen?
Drittens: Wird es seinen Zweck erfüllen?

 

Als ich mein zweites Studium begann, nachdem ich mein erstes abgebrochen hatte, stellte ich mir genau diese drei Fragen. Bei diesem Neustart aber zum ersten Mal sehr bewusst – und mit der Hoffnung, darauf möglichst schnell viele und gute Antworten zu finden.

Ins erste Studium einfach so hineingeschlittert

In mein erstes Studium bin ich, heute 25 Jahre alt, irgendwie hineingeschlittert. Ich hatte die Fachhochschulreife bestanden. Und nun, in diesem Meer an Studienrichtungen, den für mich idealen Studiengang herausfinden?

Mein Denken beschränkte sich damals auf wenige Leidenschaften, die ich nicht mal als echte „Leidenschaften“ bezeichnen würde. Und trotzdem hatte ich nicht den Willen, und vielleicht auch nicht die Kraft, genügend Energie in meine Studienwahl zu investieren. Also hielt ich mich an etwas, das ich von der Schule aus kannte – Wirtschaft – und probierte mich gleichzeitig an etwas Neuem: Die Wahl fiel schließlich auf das Fach Wirtschaftspsychologie. 

Ein Neustart ohne Leidenschaft

Erleichtert, eine Entscheidung getroffen zu haben und gespannt auf den Neustart, begann ich also Wirtschaftspsychologie in München zu studieren.Eine von den eingangs erwähnten Fragen habe ich mir damals tatsächlich gestellt: Was erwartet mich?

Das ist aber eine Frage, die ich mir zu oft, zu schnell und zu kurz beantwortete. Nämlich: Neue Freunde, interessante Vorlesungen und irgendwann lerne ich ein Mädchen kennen, das ich dann später einmal heiraten werde. So war das früher bei meinen Eltern, also wird das bei mir auch so sein. Gedankengang abgeschlossen, Frage beantwortet.

Sieben Semester lang habe ich mich durch etwas gequält, was für mich zunehmend keinen Sinn ergab, was mir nicht lag, was mir irgendwie nicht gefiel. Inhaltlich fand ich das Studium spannend, denn ich habe viel über mich gelernt und verstand zunehmend die Komplexität des menschlichen Erlebens und Verhaltens.

Nicht mal auf Partys konnte ich gehen

Seit Beginn meines Studiums war ich stark mit mir beschäftigt. Die Leute aus meinem Kurs gingen zu Beginn eines jeden Semesters auf die „Ersti-Partys“. Doch ich wollte nicht mit, weil ich nicht konnte. Ich konnte nicht, weil mir ständig schlecht wurde und ich mich auch öfters übergeben musste, wenn ich in stressige Situation geriet. Nach einigen Versuchen habe ich es dann einfach gelassen, mich diesen Situationen immer wieder aufs Neue auszusetzen. Im zweiten Semester bin ich durch jede einzelne Prüfung gefallen. Bei meinem Vater wurde in dieser Zeit ein Tumor festgestellt und ich bin das erste Mal aus meiner Welt aufgewacht.

Als mein Vater in etwa dem gleichen Alter wie ich damals war, hatte er seinen Vater verloren. Und ich habe gedacht, das gleiche Schicksal teilen zu müssen. Ich, der nicht mal auf Partys gehen kann, ohne dass ihm schlecht wird. Ich, der keinen Funken Selbstvertrauen besitzt. Von den fünf Prüfungen im Semester habe ich damals tatsächlich keine bestanden. Doch zuhause hat niemand davon etwas mitbekommen.

Statt Neustart: den Schein gewahrt, mit aller Kraft

Mit aller Kraft habe ich den Schein des glücklichen Wirtschaftspsychologie-Studenten aufrecht erhalten, damit sich meine Eltern keine zusätzlichen Sorgen um mich machen mussten. Sie hatten alle Hände voll zu tun – mit dem Tumor meines Vaters und mit meinem schwerbehinderten Bruder. Nur meine Freundin wusste ein bisschen etwas von mir. Aber sie hat mich leider in vielen Dingen nicht verstanden, also musste ich alles mit mir selbst ausmachen. Irgendwann klappt das nicht mehr. Die Kraft schwindet und der Druck des komplex aufgebauten Gebildes wird unerträglich. Bis alles in sich zusammenfällt. Zum Glück.

Ich wusste gar nicht, was mir Spaß macht

Ich habe eine zweite Chance für einen Neustart bekommen und viel Zeit gehabt, mich zu fragen, was und wohin ich will. Durch ein regelmäßiges Coaching direkt in der Zeit nach meinem Studienabbruch, habe ich gemerkt, wie sehr ich mir Druck gemacht habe. Ohne zu wissen, wie sehr ich mir dadurch selber geschadet hatte.

Irgendwann kam ich auf die zweite Frage: Wird es mir Spaß machen? Wie kann ich diese Frage beantworten, wo ich doch gar nicht weiß, was mir Spaß macht? Ich begann, mir meine Ängste und Wünsche aufzuzeigen und habe mir mein Wissen und meine Erfahrungen aus dem ersten Studium zu Nutze gemacht. Ich hatte ja einen riesigen Fundus an Erfahrungen und wusste, wie mein zweites Studium nicht laufen soll. Und habe damals bewusst über Nachwirkungen von einzelnen Handlungen nachgedacht.

Ich hatte einfach Angst vor dem Neustart

Hier ein Beispiel: Zu Beginn eines jeden Semesters gibt es selbstverständlich Partys. Eigentlich eine wunderbare Gelegenheit für einen Neustart. In ausgelassener Stimmung werden hier die ersten Kontakte im neuen Lebensabschnitt geknüpft. Mit der Zeit entwickeln sich daraus Cliquen oder schließlich richtige Freunde. Bleibe ich also von Partys fern, erschwere ich mir das Kennenlernen von Kommilitonen. Aus heutiger Sicht gibt es für mich keinen besseren Ort, um in kurzer Zeit mit verschiedenen Menschen in Kontakt zu kommen. Und auch keinen einfacheren Weg. Aber sagen Sie das mal einem Menschen, der genau vor diesen Situationen Angst hat. Er wird den Nutzen dahinter nicht erkennen, wenn er nur an seine eigene Hürde denkt. Bei mir war es die Übelkeit. Mir war klar, dass ich mich diesen Situationen im zweiten Anlauf aber wieder stellen muss. Und nun habe ich auch den Nutzen dahinter erkannt.

Und plötzlich machte es Spaß

Mein Bedürfnis, gemocht zu werden, Freunde und eine Clique zu haben, lässt sich nicht einfacher erfüllen, als durch den Besuch von Partys. Außerdem wohne ich nicht mehr zuhause, habe keine Freundin mehr, die ich so oft als Ausrede für mein „Nicht-Können“ benutzte und war so komplett auf mich allein gestellt. Die Ausrede, dass mir schlecht wird, zählte auf ein Mal nicht mehr und schon erlebte ich Partys, die ich mir einige Jahre vorher noch nicht einmal vorstellen konnte. Und hier kommt der Faktor „Spaß“ ins Spiel. Vorher habe ich diese Situationen als Belastung empfunden, heute definiere ich Spaß u.a. auch mit Partys. Das, was für viele Menschen normal bzw. einfach klingt, war für mich ein langer und schwieriger Prozess. Außerdem wurde mir bewusst, welche starken Auswirkungen das Umfeld auf den „Spaßfaktor“ hat. Ich sehe mich in meinem aktuellen Studium nicht mehr als Einzelkämpfer, sondern als Teil eines Geflechts aus Familie, Freunden und Studentenalltag. Und genau das macht mir Spaß: Teil von etwas zu sein.

Die letzte Frage, die ich mir stellte, war: Wird es seinen Zweck erfüllen?

Im Laufe des Lebens begegnen einem immer wieder Weisheiten, die sich zum Teil widersprechen oder aufheben. Das beste Beispiel ist: „Gegensätze ziehen sich an“ vs. „Gleich und Gleich gesellt sich gern“. Was stimmt nun? Suche ich jetzt nach einer Freundin, die mir sehr ähnlich ist oder eine, die das Gegenteil verkörpert. Beides kann eine Bereicherung darstellen, aber ebenso auch Konfliktpotenzial beinhalten. Ich war bzw. bin wahrscheinlich nicht der einzige, der sich gerne dieser Weisheiten als Entscheidungsheuristiken bedient. Grade weil sie ein kleines bisschen Sicherheit geben, wenn man sich in bestimmten Fragestellungen unsicher ist.

Ich habe mir früher eine bestimmte Weisheit zu Herzen genommen: „Wem seine Arbeit Spaß macht, wird darin auch Erfolg haben“. Für mich war Erfolg gleichzusetzen mit Reichtum und Luxus. Mein Vater kann auf eine tolle Karriere zurückblicken und ich als sein Sohn will später ähnlichen beruflichen Erfolg haben.

Ist das wirklich meine Motivation?

Diese Motivation ist sehr stark in meinem Kopf verwurzelt. Während ich Wirtschaftspsychologie studierte, habe ich mich oft gefragt, ob ich in diesem Bereich den Erfolg (Geld) haben würde, wie ich es mir vorstelle. Mit andere Worten: Wird dieses Studium seinen Zweck erfüllen, um mein Ziel zu erreichen? In meinem Fall habe ich diesen Gedanken zu lange ignoriert, obwohl er doch ein ausgeprägter Gedanke ist, der mich ein Stück weit auch ausmacht. Nun studiere ich in Richtung Bau & Immobilien und merke, wie mein Studium zu meinem Ziel passt, da ich beispielsweise mit Projektentwicklern in Kontakt komme, die „mein“ Ziel schon erreicht haben. Meine Motivation erfährt dadurch enorme Energie, da ich nun das Gefühl habe, mit diesem Studium meinem Ziel näher zu kommen.

Ich erkannte: Der Weg ist nicht richtig

Selbstverständlich würde ich niemals sagen, dass man durch das Wirtschaftspsychologiestudium nicht reich oder keinen beruflichen Erfolg haben wird. Aber für mich persönlich war dieser Weg nicht der richtige, um mein Ziel zu erreichen. Ich brauchte einen Neustart, etwas anderes. Mich haben noch viele weitere Fragen beschäftigt, das gehört auch zu einem Veränderungsprozess hinzu. Aber diese drei Fragen waren die weniger Individuellen. Eine individuelle Frage war beispielweise: „Warum habe ich nicht so gute Noten, wie andere, die genau so viel lernen, wie ich?“

Sich zu vergleichen, macht einen Neustart nicht einfacher

Ich habe mich früher oft mit Schulkameraden verglichen und mir ist aufgefallen, dass sie bei gleichem Lernaufwand oft bessere Ergebnisse vorzuweisen hatten, als ich. Das hat mich meine ganze Schullaufbahn genervt, da ich u.a. von meinen Lehrern auch als intelligent bezeichnet wurde. Und ich auch wusste, dass ich nicht ganz so blöd bin, wie ich mich manchmal anstelle. Aber wieso hat dann ein Hauptschüler bessere Noten als ich, einem Realschüler, der auch schon auf dem Gymnasium war? Später ist mir aufgefallen, dass es nicht unbedingt auf die Intelligenz ankommt, sondern eher auf die Fähigkeit, seine Energie im richtigen Moment zu bündeln und fleißig zu sein. Ich habe gelernt, dass mir nichts zugeflogen kommt und ich mir mein Wissen und meine Noten hart erarbeiten muss. Und nun bin ich auch mit meinen Leistungen im Studium zufrieden, nicht nur mit meinem Umfeld.

Manchmal tut Erkenntnis erst einmal weh

Während des gesamten Prozesses von meinem damaligen „Ich“ zu meinem jetzigen „Ich“ habe ich gelernt, dass die Antworten auf meine Fragen nicht immer die Antworten sind, die ich mir vorgestellt habe. Manchmal tat eine Erkenntnis weh, manchmal hat sie mich verwirrt. Doch letzten Endes hat sie mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Und ich bin mit mir zufrieden.

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Warum wir aus Krisen lernen können. Ein sehr persönliches DeSelfie.

DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.