Nur eine Geschichte
Johanna Jacobi ist eine Theaterkünstlerin und Wortschmiedin aus London und dem Fünfseenland. “Nur eine Geschichte” gibt es für sie nicht. Ihr Herzensthema ist es, den Begriff der Heimat neu zu erzählen und vor der Aneignung durch rechte Populisten zu bewahren. Ihr Weg und Ziel: Beziehung zwischen Land, Menschen, Sprache und Geschichte angstfrei und liebevoll zu verstehen und zu leben. Dazu richtet sie in diesem Artikel die Lupe auf ein kleines Wort mit großer Macht.
Ein Essay für mehr Achtsamkeit in unserer Wortwahl
Ein Wort, das mir im Nacken sitzt, und auf der Zunge liegt, das mich ärgert und immer wieder erwischt.
Echo Chamber
2015. Ich bin 16 oder 17, im Gefühlchaos der schulischen echo chamber, in der alle unseren kollektiven Narrative, unsere Ambitionen, Wünsche, Selbstbetrachtungen, Familienhintergründe und unbewussten Gedankenmuster zwischen den Wänden unseres Oberstufenzimmers widerhallen, bis man seine eigene Meinung kaum noch ausmachen kann.
Seit ungefähr einem Jahr dreht sich ein Gespräch im Kreis: ob sich X oder Y nur ritzt, oder alternativ, nur abmagert, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich rede am Rande mit. Weiß damals wohl genauso wenig, was ich dazu sagen soll, wie ich mich heute an meine tatsächliche Antwort erinnern kann. Wir waren Teenager. Wir wollten alle Aufmerksamkeit – wir brauchten sie. Alle auf unsere Art.
Und uns war wohl zu oft gesagt worden, dass wir sie nicht verdienten, dass es schwach war, oder peinlich, nach ihr zu suchen. Aufmerksamkeit war etwas, was den Coolsten einfach geschah. Und dass selbst die vielleicht eine ganz andere Art von Aufmerksamkeit gebraucht hätten, war für mich ziemlich unvorstellbar.
Das Gespräch, das es nie gab
Es hätte hilfreich sein können, über dieses Thema zu reden, das Wort “Aufmerksamkeit” mal auseinander zu nehmen. Vielleicht hätten wir füreinander da sein können, wenn wir zugegeben hätten, dass wir sie alle brauchten, diese Aufmerksamkeit in ihren vielen Facetten.
Aber da war dieses kleine nur, welches unsere Gespräche definierte, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatten. Die Sache war ja unmöglich sinnvoll zu beantworten, weil das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit schon in der Fragestellung entwertet worden war. Um irgendeinen liebevollen oder gar hilfreichen Kommentar abzugeben, musste man also erstmal die Frage selbst hinterfragen.
Trick Mirror
Je mehr ich begann, das Wort “nur” wahrzunehmen, desto mehr zeigte sich mir seine verzerrende, disqualifizierende Wirkung: Es war ja nur das eine Mal, sie war nur eine Frau, es ist nur ein Tag. Ein simples rhetorisches Mittel, um nicht auf die Natur einer Sache einzugehen, ein Gespräch im Keim zu ersticken oder in enge Grenzen zu weisen.
Es als unwichtig einzustufen oder von vornherein einen “Gewinner” zu definieren. Das “Nur” nimmt dem dazugehörigen Begriff die Möglichkeit, für sich selbst zu stehen.
Es setzt von Anfang an in Beziehung – oft gefährlich unauffällig.
Ausweichmanöver
Richtig beunruhigend finde ich den Gebrauch im bildenden und kulturellen Kontext. So versuchte mein Vater einmal in der Kirchengemeinde das Kinderlied Du hast uns deine Welt geschenkt zu hinterfragen – er wollte darauf aufmerksam machen, dass wir Kindern die Welt nicht als Geschenk von Gott präsentieren sollten, wenn wir nicht auch darüber sprechen, was es bedeutet, Verantwortung für ein Geschenk zu übernehmen, was “Herr, wir danken dir” tat-sächlich bedeutet.
Die Antwort des Pfarrers? Es sei doch nur ein Kinderlied. Es war ein einfaches Ausweichen einer schwierigen Frage. Ich gehe nicht davon aus, dass der Pfarrer sich in dem Moment wirklich bewusst war, dass diese Kinder erwachsen werden würden, Berufswahl und Konsumentscheidungen treffen würden.
Ausweichen, wenn es schwierig wird
Oder dass auf allen Seiten der Geschichte, von der eigenen Kirche, über die Gospelchöre des Civil Rights Movements, aber auch bis hin zu den kulturell angeeigneten Volksliedern der Nazis, Lieder und Musik im Allgemeinen, die Menschheitsgeschichte bewegt und gelenkt haben.
Und man könnte meinen, dass in der Theaterwelt, der Welt der Geschichtenerzähler, die Macht der Geschichten grundsätzlich ernstgenommen wird. Man läge falsch. Ich habe durchaus schon mit Theatermenschen gesprochen, die fast unmerklich in eine Diskussion einfließen lassen: “naja, es ist ja nur eine Geschichte.”
Die Macht der Geschichten
Dabei ist das mit den Geschichten ja eigentlich der springende Punkt an der Sache. Geschichten gehen ja weit über den Kunstraum hinaus, bis in die Religion sowieso, bis in die Politik und die sich mit ihr befassenden Medien natürlich, und bis in unseren privaten Alltag. In Erzählende Affen analysieren die Journalist*innen Samira El Ouassil und Friedemann Karig – die gemeinsam auf Studien in Kommunikations- und Medienwissenschaften, Deutscher Literatur, Politik, Soziologie und VWL kommen – wie das Geschichtenerzählen Menschen beeinflusst und wie diese Geschichten funktionieren.
Inspiriert unter anderem vom Philosophen Alasdair MacIntyre schlagen sie sogar einen alternativen Namen für unsere Spezies vor: homo narrans oder pan narrans: der erzählende Affe. (Friedemann und Ouassil, 2021, 93). Schließlich sei es das Geschichtenerzählen, viel mehr als unsere “Intelligenz”, welches uns von anderen Tieren unterscheidet. Diese Geschichten umfassen alles von Märchen, über politische Propaganda und den Träumen – Geschichten, die wir uns nachts unbewusst selbst erzählen sozusagen – bis hin zu den potentiellen Zukunftsvorstellungen, die bestimmen, ob wir morgens motiviert sind aufstehen, oder lieber direkt im Bett liegen bleiben. (Karig und Ouassil, 2021).
Auch das unbewusste “Nur” ist eine Geschichte, die wir erzählen. Wie viele Geschichten, nimmt sie Einfluss auf uns, ohne dass wir es recht bemerken.
Wort und Tat
Natürlich hat die Kraft der Geschichten auch Grenzen: Wie Ouassil und Karig bemerken, kann eben keine Geschichte Kriegsgefallene wieder lebendig machen, zerstörte Häuser unzerstört machen. (Karig und Ouassil, 2021, 13, f.) Ich würde aber einwenden, dass es eine Geschichte war, die den Krieg ermöglicht hat, dass es eine Geschichte sein wird, die entsprechende Geldgeber motiviert, den Wiederaufbau zu ermöglichen, dass es eine Geschichte der Hoffnung ist, die Hinterbliebene bewegt zu bleiben, und Stein auf Stein zu setzen.
Geschichten können nicht die materielle Vergangenheit ändern, aber sie gestalten die Zukunft. Und wenn wir das anhand des drastischen aber auch zeitgemäßen Beispiels des Krieges verstehen, dann hoffe ich, dass wir dieses “nur” gerade im Bezug auf das Geschichtenerzählen, sehr genau bedenken.
Die Macht einer Geschichte zu leugnen, besiegt sie nicht. Eher macht es uns ihr gegenüber blind, erlaubt uns, unsere eigene Beziehung zu ihr zu ignorieren. Ist es nur eine Geschichte? Oder ist es eine Geschichte, von vielen? Manchmal ist es ist wichtig, die Grenzen einer Geschichte zu verstehen. Sie zu besiegen oder zu verändern, indem wir verstehen, dass wir selbst Verantwortung dafür übernehmen können, eine bessere zu erzählen. Durch Wort und Tat.
Kollektive Reflexion
Wenn ich die sozialen Medien anschaue, in denen wir öffentlich so viel unserer individuellen und kollektiven Selbstreflexion abhandeln, dann fällt mir die sich online vollziehende Polarisierung momentan besonders stark auf. Theoretisch könnte man sagen, was man möchte, alle Zeit der Welt haben, um ohne Unterbrechung darzulegen, welche nuancierte und spezifische Meinung man vertritt.
Es könnten Plattformen der Pluralität sein, auf welchen man voneinander lernt. Stattdessen sehe ich Slogan für Slogan und harte Fronten auf jeder der zwei bis zweitausend Seiten eines jeweiligen Konfliktes. Feine Meinungsabweichungen werden im Internet meist nicht als Nuancen gesehen, als Chance für Perspektivwechsel und als Dialoggelegenheit, sondern als Betrug.
Und während diese Onlinekultur unsere Offline-Kommunikation gewiss beeinflusst, haben wir in meiner Erfahrung doch im persönlichen Gespräch noch mehr Toleranz für einander. Mit einem Bewusstsein für rhetorische Feinheiten kann man dann so sprechen, dass mehr als eine Geschichte ernst genommen wird, dass sich realistische Schattierungen zeigen und selbst bei tiefgreifendsten Meinungsunterschieden Gemeinsamkeiten auftauchen – oft sogar ganz schnell.
Kollektive Verantwortung
Natürlich ist es mein Beruf, Worte ganz genau anzusehen, und Geschichten, wenn ich gerade mit ihnen arbeite, so geflissentlich wie möglich zu erzählen. Ich habe ihn mir nicht zuletzt ausgesucht, weil ich das Geschichtenerzählen nicht Werbegiganten, Blockbusterproduzenten und Populisten überlassen will. Das Geschichtenerzählen und Bewusstwerden unserer Wortwahl ist aber nicht nur Verantwortung derer, die Kunst zu ihrem Beruf gemacht haben.
Wie viele Punkte gibt es, an denen wir direkt oder indirekt den Geschichten jeder Art, die wir hören, das Wort “nur” anhängen, oder es davorsetzen? Und was ist die Alternative? Um auf mein erstes Beispiel zurückzukommen: Wenn wir das “Nur” herausnehmen, dann fragen wir einfach, ob sich jemand für Aufmerksamkeit selbst verletzt. Und dann ist vielleicht die nächste Frage: Wie sehr muss einem Aufmerksamkeit fehlen, damit man zu solchen Mittlen greift? Und wie kann man dieser Person helfen, auf eine gesunde Art die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie offensichtlich braucht?
Placebo
Wenn man Geschichten, nicht als “nur” Geschichten bezeichnet, kann man sie und ihre Erzähler und Zuhörer ernst nehmen – nicht automatisch gut finden, aber ernst nehmen. Dann zeigen sich ganz andere Ansatzpunkte:
Warum sind rechtsextreme Narrative so anziehend für viel zu viele Leute?
Und welche Geschichten müssen wir erzählen, um einen guten Gegenentwurf zu bieten?
Geschichten bieten eine Art Placeboeffekt: Wenn eine Gesellschaft größtenteils an Versöhnung glaubt, kann diese weitgehend erreicht werden. Aber Geschichten können auch selbsterfüllende Prophezeiungen sein. Wer Frieden für unmöglich hält wird ihn nicht erreichen. Keine Seite davon ist “nur” eine Geschichte – diese Geschichten schaffen Wirklichkeit.
Unbequem, bunt und resilient
Das Geschichtenerzählen so ernst zu nehmen macht wohl oft Angst, selbst unter Theaterleuten: Wir sind ja nicht frei von festgefahrenen Weltanschauungen, die ständig zu hinterfragen unseren ganzen Alltag durcheinander bringen kann.
Unsere Arbeit ist immer persönlich, aber ist auch ein Geschäft, von dem wir unsere Wohnungen, Kitaplätze, Wasserrechnungen und Gemüse bezahlen müssen.
Die Narrative unserer Kunst, auch oder insbesondere die unbeabsichtigten, ernst zu nehmen, ist auch für uns wohl oft unbequem, unpraktisch, konfliktreich. Für mich ist es aber auch der wichtigste Grund, in diesem Beruf zu arbeiten. Die Kraft von Geschichten aufmerksam zu verstehen und diese mit Verantwortungsbewusstsein zu erzählen gibt in einer sehr unübersichtlichen Welt mehr als das Sicherheitsgefühl, das einem einfaches Schwarz-und-Weiß-Denken ermöglichen kann – es schenkt einem Handlungsvermögen und Wahrhaftigkeit. Und, dadurch, einen Weg liebevoll mit anderen Menschen in ehrlicher Verbindung zu stehen – das ist stark, realitätsnah, und hat das Potential eine resiliente, demokratische Zukunft zu gestalten.
Also ein Vorschlag, der mir zu größerer Aufmerksamkeit verholfen hat: das Wort “nur” versuchsweise für eine Zeit aus dem Wortschatz streichen. Was passiert stattdessen?
Postscriptum. Soviel konzeptionelles und philosophisches Gerede. Soviel Inhalte. Man kann sich kaum vor ihnen retten. Gibt es einen Ort ohne Konzept, ohne Geschichte? Wie leise kann unserer analytisches Gehirn werden? Wie nah kommen wir zum Beispiel beim Waldbaden (https://www.deselfie.de/waldbaden/) an ungestörte, konzeptlose Wahrnehmung unserer Umwelt heran?
Geschichten sind wichtig. Die sanfte Wärme der Sonne durchs Fenster, das Lichtspiel des Laubs davor, sind mir wichtiger.
Post-postscriptum. Ich habe das Gendern mit Sternchen in diesem Artikel nur eingebaut, weil Markus Söder es verbietet.
Quellen
Kinderkirchenlieder (2023) Du hast uns deine Welt geschenkt. Nürnberg: Evangelisch-Lutherische Kirche Bayern. Verfügbar auf https://kinderkirchenlieder.de/lied/du-hast-uns-deine-welt-geschenkt [aufgerufen 17.06.2024].
Ouassil, S. und Karig, F. (2021) Erzählende Affen. Erweiterte Ausgabe, 1. Auflage 2023. Berlin: Ullstein.
Einen weiteren Artikel von Johanna Jacobi über das reflektierte Kochen – hier im Herbst…
Danke an pexels für all die wunderbaren Fotos.
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