Krise by pexels.com

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Ein Plädoyer für einen freundlicheren Umgang mit Krisen

Eine Krise ist wie ein ungebetener Gast. Am liebsten würden wir sie einfach draußen stehen lassen, denn sie bedeutet Ärger, stört unsere Eintracht und bringt unsere geliebten Gewohnheiten durcheinander. Doch es lohnt sich, sie einzulassen und ein Kennenlernen zu wagen. Und meistens hat sie Geschenke im Gepäck. Ein sehr persönliches DeSelfie von Eliana Wemmje.

Wir alle versuchen tunlichst, sie zu vermeiden. Und doch klopft sie früher oder später bei jedem von uns unangekündigt an die Tür: die Krise. Laut Duden ein „gefährlicher Zustand“, ist es nicht verwunderlich, dass die meisten von uns das Klopfen so lange ignorieren, bis sie mit großem Krach die Tür eintritt. Dann sitzen wir da, inmitten eines Trümmerhaufens, und von draußen weht plötzlich ein sehr kalter Wind herein.

Krisen sind nicht schön. Sie zwingen uns innezuhalten und das Chaos zu betrachten, das unser Leben auf einmal geworden ist. Ob wir eine Beziehung oder unsere Arbeit verlieren, in finanzielle Schwierigkeiten geraten oder krank werden. Plötzlich können wir nicht mehr weitermachen wie gewohnt und alte Lösungswege funktionieren nicht mehr. Hilflos und frierend sitzen wir stattdessen mit der Krise in unserem böigen Flur und fragen uns: Was habe ich falsch gemacht? Warum passiert das ausgerechnet mir? Und vor allem: Wie werde ich diesen ungebetenen Gast schnellstmöglich wieder los?

Wer innehält, verliert

Denn nichts ist in unserer heutigen Gesellschaft ungeliebter als Stillstand. Innehalten bedeutet etwas zu verpassen, bereits gleichbleibende Erfolge sind für Wirtschaftsunternehmen Verluste. Wer nicht in Bewegung bleibt, ist heute schon von gestern und wird abgehängt – so die Befürchtung. Kein Wunder also, dass mit dem Stehenbleiben Ängste auftauchen, die wir gern in ihren stillen Begleiterposten zurückdrängen würden, um schnellstmöglich so weiterzumachen wie zuvor.

Doch es lohnt sich, diesen Stillstand einmal zu erlauben und uns den Ängsten zu stellen. So rät es auch die buddhistische Lehrerin Tsültrim Allione, die das Konzept des „Fütterns der Dämonen“ entwickelt hat: Man stellt sich den eigenen Schattenseiten, indem man diese nicht bekämpft, sondern stattdessen das ihnen zugrundeliegende Bedürfnis erkennt und stillt.

Meine persönliche Krise mit 25

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Mit Mitte Zwanzig bekam ich eines Tages beim Gehen große Schmerzen in der Hüfte. Zunächst ignorierte ich sie und ging weiter meinem recht hektischen Alltag nach. Damals pendelte ich zwischen meinem Wohnort, der Stadt, in der meine Universität war und einer weiteren Stadt, wo mein Freund lebte, finanzierte mein Studium durch zahlreiche Nebenjobs, baute nebenbei eine Selbstständigkeit auf und spürte gleichzeitig den Drang, mich kreativ zu verwirklichen, genügend Sport zu treiben, mich zu bilden und gute Noten zu schreiben, gemeinnützig zu engagieren, Gitarre zu lernen, meine Band nicht zu vernachlässigen und, und, und…

Erst habe ich die Schmerzen ignoriert

Die Schmerzen traten immer häufiger und heftiger auf, bis ich binnen weniger Wochen keinen Schritt mehr gehen konnte. Ich konsultierte zahlreiche Ärzte, doch sie fanden keine Erklärung und konnten mir weder sagen, was zu tun sei, noch wie, wann oder ob es jemals besser werden würde. Eigentlich hatte ich meinen Lebensstil als relativ normal betrachtet und gerade vorgehabt, nun erst richtig durchzustarten, volle Kraft voraus in die Zukunft und die Karriere – und plötzlich war ich ans Bett gebunden, konnte nicht mehr arbeiten, musste mein Studium unterbrechen und war selbst bei den alltäglichsten Aufgaben auf Hilfe angewiesen.

Da waren Schuldgefühle

Meine innere Sicherheit und das Vertrauen in meinen Körper waren zutiefst erschüttert. Am schlimmsten war das Gefühl der Wertlosigkeit, das mich bei dem Gedanken überkam, nicht mehr Teil der produktiven Gesellschaft zu sein. Für mich war es eine sehr intensive Zeit, mit starken inneren Kämpfen, Schuldgefühlen, Ängsten, Unsicherheiten, Tränen und Frustration.

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Wenn das Leben nur noch eine Checkliste ist

Obwohl mir so viel genommen wurde, war diese Zeit eine große Bereicherung. Ich habe gelernt, liebevoller und geduldiger mit mir zu sein. Vor allem ist mir bewusst geworden, wie sehr ich vorher angetrieben war von einem Streben nach Dingen, die nicht relevant sind – und das, obwohl ich mich immer für einen reflektierten Menschen gehalten hatte. Mit dem Großteil meiner Aufmerksamkeit war ich bei Dingen, die um mich herum stattfanden oder die noch zu erledigen waren.

Der eigene Optimierungsdruck

Durch den zunehmenden Optimierungsdruck waren immer größere Teile meines Lebens zu einer Art innerer Liste geworden, die nur noch darauf wartete, abgehakt zu werden.

Die unfreiwillige Vollbremsung durch diese Krankheit machte mir bewusst, dass ich sehr viel weniger brauchte, um glücklich zu sein, als ich dachte. Es klingt so banal, aber ist doch sehr gehaltvoll: Es musste keine Karriere sein, in der ich mich verwirklichen und all meine Stärken zu Geltung bringen kann, keine stylische Wohnung, von der ich geträumt hatte oder die neuen Kleidungsstücke, die ich so gern gehabt hätte. All dies sind schöne Dinge – wenn man sie zusätzlich hat.

Es waren die einfachen Dinge

Aber sie sind wie Platzhalter, die mich nur erfüllen können, wenn innen überhaupt jemand ist, der sie genießen kann. Wenn ich gelernt habe, das Glück zu empfinden, das mich bereits umgibt. Und das habe ich – anders als vermutet ­– immer öfter in ganz einfachen Dingen gefunden. Im stillen Alleinsein, Füße baumelnd im Prinzenbad, einem Gang mit der Freundin um den Kanal oder bei einem Becher Kaffee am Telefon mit meiner Schwester.

Rückblickend war es wie ein Ankommen. Heute bin nicht mehr so getrieben, sondern mit mehr Ruhe und Aufmerksamkeit bei dem, was ich gerade erlebe und spüre es umso intensiver. Mit diesem inneren Anker konnte ich auf eine ganz neue Weise in das „normale Leben“ zurückkehren.

Die Angst, zu Ende denken

Nach meiner Erfahrung verdrängen wir unsere Ängste meist so lange, bis wir mitten in der Krise stecken und uns keine andere Wahl bleibt, als dass wir uns ihnen Stellen. In den schlimmsten „Was ist wenn…“-Szenarien rauben sie uns dann den Schlaf und die letzten Nerven. Aber das tun sie vor allem aus einem Grund: Weil wir sie nicht zu Ende denken. Wir bleiben stehen bei: Was ist, wenn ich meine Arbeit verliere? Angst. Oder in meinem Fall: Was ist, wenn ich nie wieder laufen kann: Angst. Ich war damals so tief gefallen, wie es nur vorstellbar war. Und habe gelernt: Da unten ist es gar nicht so schlimm.

Das Gute im Schlechten

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Auch dort hatte ich gute Tage und schlechtere. Erfüllte Momente, in denen ein Sonnenstrahl mein Gesicht wärmte, eine friedlich schlummernde Katze auf meinem Schoß, Albereien mit Freunden oder Geschwistern. Nach anderthalbjährigem Ringen hörte ich auf dagegen anzukämpfen und ließ mich auf die Frage ein: Was, wenn ich nie wieder laufen kann? Und begriff, dass daran nicht mein Lebensglück hing. Mit diesem Loslassen begann meine Genesung.

Die richtigen Fragen stellen

Meine Nachbarin hatte eine Krankheit, wegen der sie immer wieder bei der Arbeit ausfiel. Die Angst, dadurch ihren Job zu verlieren quälte sie so sehr, dass sie nachts nicht mehr schlafen konnte. Dabei mochte sie ihre Arbeit nicht einmal. Durch den psychischen Druck und den Schlafmangel verschlimmerte sich ihre Situation nur noch. Eines Tages war es nicht mehr aushaltbar. Erst dann fragte sie sich: „Na gut, was ist das Schlimmste, das passieren kann, wenn ich tatsächlich meinen Job verliere?“. Und sie fragte weiter: „Aber was ist das Beste, das dann passieren kann? Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, irgendwo in der Mitte dieser zwei Szenarien zu landen?“ Plötzlich entstand dort, wo eben noch die große Katastrophe in Form eines schwarzen Nichts lauerte, ein Raum voller neuer Möglichkeiten.

Wenn sich neue Türen öffnen

Tatsächlich wurde sie bei der erstbesten Gelegenheit gekündigt. Doch nach ihrer Genesung fand sie eine neue Arbeit, bei der sie auf ungekannte Art wertgeschätzt wurde und die sie um ein Vielfaches mehr erfüllte. Statt „Warum ich?“ oder „Was ist, wenn …“ sollten wir uns viel eher folgendes Fragen: „Wozu?“. Selbst bei hochgradig traumatischen Erlebnissen rät der bekannte Trauma- und Krisenpsychologe Georg Pieper dazu, sich nicht nach dem Warum zu fragen, sondern vielmehr, was wir aus den schlimmen Erfahrungen für die Zukunft lernen können.

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Entscheidende Wendung

Krisen sind so unangenehm, weil sie uns mit all den Gedanken und Gefühlen konfrontieren, denen wir im oftmals reizüberfluteten Alltag keinen Raum geben. Plötzlich spüren wir unsere Angst vorm Alleinsein, Selbstzweifel oder unerfüllten Wünsche deutlich. Aber genau hierin liegt die Chance: Zuhören. Fühlen. Überprüfen. Neu bewerten.

Glaubenssätze überprüfen

Viele Glaubenssätze sind genau das: Glaubenssätze. Wir tragen sie jahrelang wie blinde Passagiere unbewusst mit uns herum und glauben an sie, dabei entsprechen sie längst nicht oder nicht mehr der Realität. Indem wir die Zeit der Krise für eine Art inneren Hausputz nutzen, lassen sich nicht nur wunderbar überholte Überzeugungen entlarven. Wir entdecken auch, dass die Verantwortung für unsere Sichtweisen, Entscheidungen und unser Lebensglück allein bei uns liegt. Das gibt uns den Mut, das zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist, und aktiv das anzugehen, was wir ändern können.

Krise heißt entscheidende Wendung

Wenn wir uns in dieser Form der Krise öffnen und sie als Wegweiser nutzen, verstehen wir den griechischen Ursprung des Wortes, das in seiner Wurzel „krisis“ nicht „gefährliche Situation“, sondern „entscheidende Wendung“ bedeutet. Und in der vermeintlichen Katastrophe liegt so die Möglichkeit von Wachstum, Entfaltung und Erkenntnis, die uns ohne die Krise verborgen geblieben wäre.

Wenn also das nächste Mal eine Krise vor der Tür steht, lohnt es sich sie einzulassen und am gedeckten Tisch zu Tee und Kuchen ihren Hinweisen zu lauschen. Statt, dass sie durch unser Haus tobt und alles auseinander nimmt, was nicht niet- und nagelfest ist, weist sie uns dann vielleicht behutsamer darauf hin, an welchen Stellen wir Leitungen, Wände und Dach ausbessern müssen, um uns noch lange wohl und sicher in unserem Heim zu fühlen und für kommende Unwetter gewappnet zu sein.

Zum Weiterlesen:

Allione, Tsültrim (2009): Den Dämonen Nahrung geben. Buddhistische Techniken zur Konfliktlösung. Mit einem Vorwort von Jack Kornfield. München: Goldmann.

Pieper, Georg (2014): Wenn unsere Welt aus den Fugen gerät: Wie wir persönliche Krisen bewältigen und überwinden. München: Btb.

Berndt, Christina (2013): Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burn-out. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

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