Ein persönlicher Erfahrungsbericht

Johanna Jacobi teilt ihre ganz persönliche Erfahrung mit der Selbstreflexionsmethode: Morgenseiten.
Unsere Autorin ist Theaterkünstlerin und Wortschmiedin, heimisch in London und München.
Nach ihrem Schauspielschulabschluss gab ihr Julia Camerons Klassiker „Der Weg des Künstlers“ Halt.  In diesem seit Veröffentlichung vielfach übersetztem und neu aufgelegtem Kursbuch wird der Lesende über zwölf Wochen hinweg in der Entdeckung des eigenen kreativen Selbst begleitet und geleitet.

Fotos: Danke an pexels

Die Morgenseiten sind eines der Grundwerkzeuge des Kurses. Seit Johanna dieser Methode vor zehn Monaten wieder begegnet ist, ist sie zur täglichen Morgenroutine geworden. Zur „Anwendung“ gibt es eine konkrete Anleitung in Johannas Artikel https://www.deselfie.de/morgenseiten/

Morgenseiten: Der richtige Zeitpunkt

Das erste Mal begegneten mir die Morgenseiten in der „Playwriting Society“, der ich in meinem ersten Ausbildungsjahr an der Schauspielschule beitrat. Jedes Treffen begann mit diesen drei Seiten Gedankenstrom, die wir weder durchlesen noch beurteilen sollten. Ich hatte schon seit jeher viel reflektiv geschrieben, aber es war eben doch etwas anders daran: Keine ständige Qualitätsüberwachung zu üben, half mir, den kreativen Fluss anzuregen. So flossen meine Gedanken ungestörter auf die Seiten.

Ich wollte die Morgenseiten zur Gewohnheit machen, aber sah sie damals noch als eine Art künstlerische Pflicht. Als einen weiteren Punkt auf der To-do-Liste, die von Verpflichtungsgefühlen ohnehin schon überquoll.

Aber man sagt, wenn der Schüler bereit ist, wird der Lehrer sich zeigen. Es war mein letztes Projekt an der Schauspielschule: konzeptionelles Figurentheater. Ich fand es anfangs schwierig, mich auf das Projekt einzulassen. Ich liebe es, Puppentheater anzusehen, aber als Darstellerin war es für mich eine der beängstigendsten Künste. Nach der Vollendung von drei Abschlussarbeiten sah ich mich kurz vor einem Burnout. Ich hatte mein Studium positiv abschließen wollen, und fand mich nun in der Besetzung eines Stücks, für das ich meinte, überhaupt nicht gemacht zu sein.

Konzentration und Vertrauen

In diesem zeitgenössischen Puppentheater standen vor allem handgeführte Figuren im Mittelpunkt, nicht Marionetten. Die Spieler waren dabei durchgehend sichtbar. Ich wusste, der Erfolg der Illusion hing davon ab, wie genau ich die Bewegungen der Puppenglieder, und die Aufmerksamkeit der Zuschauer lenken konnte. Ich brauchte Konzentration und Vertrauen. In diesem Kontext hatte ich keins von beidem. Es brauchte Selbstdisziplin von mir, meine Erwartungen anzupassen und lernbereit zu bleiben.

Der erste Teil unseres Probentages bestand bei unserem wunderbaren Regisseur immer aus der Niederschrift der Morgenseiten. Er bat uns auch an probenfreien Tagen, die drei Seiten zu schreiben. Außerdem sprach er über seine Erfahrungen mit Julia Camerons Weg des Künstlers, der Quelle für die Technik.

Innere Widerstände und professionelles Wachstum

Die Morgenseiten halfen mir, eine wunderbare und erfolgreiche Probenzeit zu gestalten und zu ermöglichen. Sie unterstützten mich dabei, innere Widerstände zu  bearbeiten, und bewusst zum kreativen Prozess beizutragen. Alles Hadern, und der Trotz, den ich gegenüber dem Puppentheater fühlte, meine Selbstzweifel – und auch persönliche Umstände in meinem Leben – fanden auf diesen Seiten Ausdruck. Und ich durfte sie wahrnehmen, ohne mich an ihnen festzuhalten.

Jeden Morgen konnte ich bewusst entscheiden, was ich mit in den Probenraum nehmen wollte, und was ich auf den Seiten meines Notizbuchs zurücklassen würde. Die Morgenseiten ermöglichten mir, mich professionell zu verhalten, und erweiterten auch mein Lernvermögen. Bestimmt habe ich was ich schrieb erst noch beurteilt, aber ich bemerkte die Beurteilung sofort, und ich konnte sie hinterfragen.

Loslassen vergangener Erfahrungen

Meine Angst vor dem Puppenspiel zum Beispiel kam teilweise von vergangenen Erfahrungen, die nicht mehr relevant waren, und aus einem fehlenden Vertrauen dem Publikum gegenüber. Die Zuschauer zu überzeugen, dass die Pappmaché- und Holzkörper, die ich bewegte, lebendig waren, kam mir gefährlich vor – als müsste ich ständig Angst haben, dass ich bei einer Lüge ertappt würde.

Die tägliche Reflexion half mir zu verstehen, dass mit darstellerischer Präsenz – und Vertrauen in die Fantasie des Publikums – selbst eine Mülltüte zu einer beseelten Kreatur werden kann. Nach und nach räumte ich meine inneren Widerstände aus dem Weg, und wir konnten als Ensemble eine Vorstellung kreieren, die eine meiner liebsten wurde.

Kräftige Wurzeln für wackelige Beine

Über den Sommer wurden meine Einträge wieder unregelmäßiger, obwohl ich bemerkte, dass mir die Morgenseiten fehlten, wenn ich sie ausgelassen hatte. Nach dem Abschluss zog ich mit Freunden in einen neuen Stadtteil, und während ich versuchte, mich professionell aufzustellen und finanziell über die Runden zu kommen, merkte ich, dass ich künstlerisch und persönlich nach Halt suchte.

Ich verstand, dass ohne tägliche kreative Rituale, die frei von professionellem Druck waren, meine Motivation, mein Ideenreichtum, und meine Liebe für meinen Beruf schnell verloren gehen würden, und auch mein Selbstwertgefühl begann zu leiden. Als ich Julia Camerons Buch durch Zufall second-hand im örtlichen Buchladen fand, beschloss ich, mich für zwölf Wochen dem Kurs zu widmen, dessen stetiges Instrument die Morgenseiten waren.

Diese Praxis beeinflusste den Rest meines Lebens

Ich glaube, ohne die Morgenseiten hätte ich den Rest des impulsreichen und kreativ befreienden Kurses nie vervollständigt. Über fast drei Monate bemerkte ich auch, wie die Praxis den Rest meines Lebens beeinflusste. Anfangs war es vor allem die morgendliche „Gehirnentleerung“ (Cameron, 2019), die mir half. Besonders nachdem ich aufwache, strömt oft meine komplette To-do-Liste auf mich ein. Wenn ich erstmal alles aufgeschrieben hatte, konnte ich besser Prioritäten setzen, womit ich oft Schwierigkeiten hatte.

Dann fing ich an, auf den Morgenseiten zu träumen, von all den Dingen, die ich noch lernen wollte. Von den Orten, die ich besuchen wollte, von den Projekten, die mir wirklich etwas bedeuteten.

Sorgen bekamen ihren Platz

An vielen Tagen wurde es auch schwierig, die Morgenseiten zu schreiben. Manchmal kamen Ängste hoch, mit denen ich mich ungern beschäftigen wollte, wie zum Beispiel mein chronisches Aufschieben von bürokratischen Aufgaben wie Formularen, oder persönliche Situationen, die mir Kummer bereiteten.

Besonders trafen mich Sorgen über die Zukunft, als ich mich einmal dem Ende einer lese- und bildschirmfreien Woche näherte. Alle meine Ablenkungsmanöver waren mir entzogen worden, und letztendlich brauchte ich vor allem viel frische Luft, um weiter zu verarbeiten, was in den Morgenseiten Ausdruck fand.

Reiche Erde: Zugriff auf mein Wachstumspotential

Inzwischen ist meine Morgenseiten-Praxis so konstant wie die erste Tasse Tee – also sehr konstant! Und in letzter Zeit hat sich durch stetige Verarbeitung mein Gedanken- und Emotionsstau verringert: Ich hatte nur noch sehr selten Gefühle der Überforderung, die für mich vor den Morgenseiten ziemlich normal waren. In solchen Situationen hilft mir besonders Nähe zur Natur und Bewegung.

Meist aber bemerke ich durch die Morgenseiten, was mich gerade beschäftigt, bevor es überwältigend wird. Cameron stellt im Kurs die Aufgabe, die Morgenseiten (nach einigen Wochen) durchzulesen, um bestimmte Ängste oder negative Selbstwahrnehmungen zu entdecken, und dann näher zu evaluieren. So lerne ich, auch während des Tages, besser zu erkennen, wenn ich verurteilende oder pessimistische Gedanken habe, und ihre Gültigkeit und ihren Nutzen zu hinterfragen.

Widerstand als nützliches Zeichen

Wie im „Weg des Künstlers“ beschrieben, hat sich bei mir gezeigt:  Die Tage, an denen ich am meisten Widerstand verspüre, die Morgenseiten zu machen, sind oft die, an denen die unangenehmen, aber sehr wichtigen Themen bei mir hochkommen. Das tun sie oft zwar erst auf der letzten Seite, nach zwei Seiten unvollendeter Sätze und Versionen von „Heute habe ich keine Lust zu schreiben.“ „Mein Handgelenk tut weh.“ „Ich will mich nicht damit beschäftigen.“, und „Alles was ich brauche ist Schokopudding, dann wird das schon wieder“.

Wenn ich aber am Ende der dritten Seite angekommen bin, fühle ich mich dann meist nicht nur erleichtert, sondern manchmal hat sich schon ein Lösungsweg für mein Problem gezeigt.

Blockaden können gelöst werden

Künstlerisch haben mir die Morgenseiten all das gegeben, was Cameron im Buch verspricht: Sie konfrontieren mich so mit meinen Blockaden, dass ich sie lösen kann. An vielen Tagen lässt mich meine innere Kritikerin währenddessen vollkommen in Ruhe, und mischt sich auch bei anderen kreativen Prozessen nicht in den Anfangsstadien ein, sondern erst bei der Bearbeitung – dort wo sie hingehört.

Es war hilfreich für mich, persönliche und künstlerische Themen, die ich vorher unter unterschiedlichen Kriterien betrachtet hatte, in so einem völlig freien und formlosen Kontext in Beziehung zueinander zu verstehen. Gleichzeitig stellte ich häufig fest, dass die Punkte, an denen meine Kreativität mit den praktischen Umständen meines Lebens zusammenstieß, oft die fruchtbarsten und interessantesten waren – wo Reibung ist, ist Energie. Die Morgenseiten verwandeln meine großen Herausforderungen in kreative Wachstumsgelegenheiten, ohne dass ich einen einzigen künstlerischen Finger hebe.

Pflege meiner Beziehung zu mir selbst

Außerdem sind die Morgenseiten ein Beziehungswerkzeug: eine tägliche Gelegenheit, mit mir selbst in Kontakt zu treten. Mich jeden Tag in der Gegenwart meines eigenen Lebens zu erden, und in meinem eigenen Rhythmus mit den Themen umzugehen, die für mich Wachstumspotential bereithalten. Auf praktischer Ebene haben die Morgenseiten mir bei der Entscheidungsfindung geholfen.

Oft halten mich dabei nicht zu Ende gedachte Gedanken zurück, und sie auszudrücken zeigt mir ganz klar, was mir wichtig ist.

Aufschreiben hilft in jedem Fall

Manchmal hilft es einfach aufzuschreiben, was ich nie jemandem ins Gesicht sagen würde. Sogar mir selbst. Es kommt vor, dass ich hart zu mir bin, und mich dann im selben Satz entschuldige. Wahrheiten kann ich nicht aus dem Weg gehen. Und hin und wieder ist alles was mir einfällt meine Einkaufsliste, und auch die ist dann meistens vollständiger als wenn ich sie auf Kommando zu schreiben versuche.

Ich habe auch gelernt, dass das Aufrechterhalten der Morgenseiten mehr Gewohnheit als Disziplin für mich ist. Wenn ich es an einem Tag vergesse, weil mein Morgen anders als erwartet abgelaufen ist, dann bin ich inzwischen nicht mehr ärgerlich darüber. Ich bemerke es einfach, und hole es nach, oder mache am nächsten Tag weiter.

Mit weniger Stress effektiver und effizienter

Ich erspare mir dadurch das Schuldgefühl, durch das die Morgenseiten zu Arbeit und Verpflichtung werden. Zur Erfüllung eines Prinzips, anstatt zur Pflege meiner Beziehung mit mir selbst. Übrigens hat sich dieses emotionale Muster ausgeweitet – ich fühle mich jetzt auch nicht mehr schuldig, wenn ich mein Bewegungs- oder Arbeitspensum nicht erfülle, und habe dadurch meine Hemmschwellen gesenkt, meine Handlungsfähigkeit gesteigert, und bin letztendlich mit weniger Stress effektiver und effizienter geworden.

Die Morgenseiten sind mehr als ein Künstlerwerkzeug: Für mich sind sie zur täglichen Bewusstseinspflege geworden, die Pflicht- und Schuldgefühle mit Motivation, Gelassenheit und Elan ersetzt, und mir in jeder Lebenslage geholfen hat, meine Erfahrungen zu verarbeiten und mit mir selbst im Einklang zu sein.

Quellen

Cameron, J. (1995) The Artist’s Way: A Spiritual Path to Higher Creativity. London: Pan Macmillan.

Cameron, J. (2019) Der Weg des Künstlers: Ein Spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität. Übersetzt von Anna Follmann und Ute Weber. München: Knaur.  

With thanks to Julia Cameron, Rose Bruford College, Oliver Hymans, and the company of “Dead Ringer”.

DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.

Wie geht die Methode? Hier ist die Beschreibung.