Erst mal bei sich selbst anfangen

Nachhaltigkeit und Selbstreflexion: Klimawandel, Biodiversitätsverlust, soziale Ungerechtigkeit. Alles nicht neu – und gleichzeitig dringlich: Die globale Gesellschaft steht vor komplexen Herausforderungen. Die Zeit, diese zu lösen, wird immer knapper. Eines ist klar: Es muss sich schnell etwas ändern. Immer deutlicher wird auch, dass die bisherigen Lösungen nicht radikal genug sind. Die Entwicklung der Selbstreflexionskompetenz spielt in der Nachhaltigen Entwicklung deshalb eine ganz zentrale Rolle. DeSelfie-Autorin LenaKaufmann über nachhaltiges Wirtschaften und innere Entwicklung.

Danke, pexels

Nachhaltigkeit und Selbstreflexion geht jede*n etwas an

Alle reden darüber, jede*r hat eine Meinung dazu, wenige wissen, was es wirklich bedeutet: Nachhaltigkeit. Der sogenannte Brundlandt-Report aus dem Jahr 1987 liefert die bis heute wichtigste Definition von Nachhaltiger Entwicklung: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (aus dem Englischen übersetzt).

Ein wichtiger politischer Meilenstein in diesem Zusammenhang war die Weltklimakonferenz 2015 in Paris. Dort wurde als Fahrplan für die Zukunft die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen verabschiedet. Ziel dieser ist es, allen Menschen weltweit ein gutes Leben zu ermöglichen und dabei die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft zu bewahren. Definiert wird das genauer in den 17 Nachhaltigkeitszielen (engl. Sustainable Development Goals, SDGs), die Regierungen weltweit, aber auch die Zivilgesellschaft, die Privatwirtschaft und die Wissenschaft zum Handeln auffordern.

Nachhaltige Entwicklung braucht innere Entwicklung und Selbstreflexion

Nun sind bis zum geplanten Erreichen der Ziele 2030 nicht mehr viele Jahre übrig. Daten und Fakten, was zu tun ist, sind vorhanden, doch der Ausstoß von Treibhausgasen und die Übernutzung natürlicher Ressourcen gehen weiter. Wie sollte es auch anders sein, wenn wir die Herausforderungen als rein extern und technisch betrachten? Doch es zeichnet sich eine neue Sichtweise ab: Der Klimawandel ist ein menschliches Problem, das untrennbar mit anderen Krisen (z. B. Gesundheit, Armut) verbunden ist und in internen mentalen Zuständen (z.B. Konsumismus, Rassismus, Elitedenken, Ungerechtigkeit) wurzelt.

Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen betonen zunehmend, dass die bestehende Außenorientierung durch eine Innenorientierung ergänzt werden muss, um einen tiefgreifenden kulturellen Wandel und eine Transformation in Richtung radikaler Nachhaltigkeit zu unterstützen. „Wir haben kein Umweltproblem, sondern ein Gesellschaftsproblem“, fasst es Transformationsforscherin Maja Göpel (2020) zusammen. Nachhaltigkeit und Selbstreflexion gehören zusammen.

Nachhaltigkeit und Selbstreflexion, Danke Henry-&-Co, pexels

Selbstreflexion für den Blick aufs große Ganze

Welche zusätzlichen Fähigkeiten wir für eine nachhaltige Gesellschaftstransformation entwickeln müssen, beschreiben die “Inner Development Goals” (IDGs). 2019 wurde die Initiative von Vertreter*innen aus Wissenschaft, Unternehmen und anderen Organisationen gegründet. Die IDGs umfassen fünf Dimensionen und insgesamt 23 Fähigkeiten und Qualitäten, die Menschen haben sollten, um erfolgreich mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen zu können und die SDGs zu erreichen.

 

Nachhaltigkeit und Selbstreflexion: IDG project initiators (2021). Inner Development Goals: Background, method and the IDG framework

Die erste Dimension in der linken Spalte behandelt die Beziehung zum Selbst. Dabei stehen die Entwicklung und Vertiefung der Beziehung zu unseren Gedanken, Gefühlen und unserem Körper im Fokus. Dies hilft uns, präsent zu sein, absichtsvoll zu handeln und nicht blind zu reagieren, wenn wir mit komplexen Situationen wie der Klimakrise konfrontiert werden. Fünf Fähigkeiten und Eigenschaften sind hier besonders wichtig, die alle mit “Systemischer Selbstreflexionskompetenz” zusammengefasst werden können:

  • Selbstwahrnehmung: Die Fähigkeit, mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen in reflexivem Kontakt zu sein, ein realistisches Selbstbild zu haben und sich selbst regulieren zu können.
  • Integrität und Authentizität: Engagement und die Fähigkeit, mit Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Integrität zu handeln.
  • Innerer Kompass: Ein stabiler innerer Kompass, der in Werten verankert ist, die sich auf ein größeres Ganzes beziehen.
  • Offenheit und Lernbereitschaft: Eine Grundhaltung der Neugier und die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen und zu wachsen.
  • Präsenz: Die Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu sein, ohne zu urteilen

Danke Nicholas Githiri, pexels. Auf dem Boden der Tatsachen.

Es braucht Durchhaltevermögen

Das erfordert viel Zeit, Durchhaltevermögen und Ehrlichkeit. Sicher ist aber auch, dass niemand  in jedem Bereich perfekt sein muss: Es geht darum, sich mit den eigenen  Werten auseinanderzusetzen und das eigene  Verhalten mit dem Blick auf das große Ganze zu hinterfragen. Dieses größere Ganze kann jeder für sich selbst definieren: die Menschheit, das globale Ökosystem oder bestimmte große Themen wie Klimawandel, Umweltprobleme, öffentliche Gesundheit, Menschenrechte usw.

Fragen, mit denen man die  innere Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit beginnen und stärken kann :

  • Was sind meine Bedürfnisse und mit welchen Werten identifiziere ich mich?
  • Nach welchen Prioritäten treffe ich meine Entscheidungen?
  • Wer oder was ist von meinen Entscheidungen und meinem Verhalten betroffen?
  • Wie reagiere ich, wenn ich mit anderen Meinungen und Perspektiven konfrontiert werde?

Nachhaltigkeit und Selbstreflexion: Wir brauchen Mut zur Verletzlichkeit

Herausfordernde Situationen wie die Klimakrise lösen emotionale und kognitive Reaktionen aus. Es ist wenig verwunderlich, dass Menschen sich im Angesicht der globalen Herausforderungen erst einmal ohnmächtig und hilflos fühlen. Wenn eine Person nicht in der Lage ist, sich selbst und die eigenen Reaktionen zu reflektieren, können Emotionen, Abwehrreaktionen und voreilige Urteile unbewusst ein sinnvolles, nachhaltiges Verhalten verhindern.

Mit den eigenen inneren Prozessen in Kontakt zu sein und sie zu verstehen, führt auf der anderen Seite zu einer größeren Selbstakzeptanz und einem geringeren Bedürfnis, sich an ein idealisiertes Selbstbild zu klammern. Erst die emotionale Verarbeitung der Informationen und Anforderungen im Hier und Jetzt – zusammen mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und Zugehörigkeit und der Bereitstellung klarer Handlungsempfehlungen – hilft uns, ins Handeln zu kommen, unsere eigenen Verhaltensweisen zu ändern und den Wandel aktiv zu gestalten.

Dafür braucht es Verletzlichkeit. Denn erst, wenn wir bereit sind, uns unseren Ängsten und Zweifeln zu stellen, an uns zu arbeiten und nicht vorgeben, perfekt zu sein, können wir uns eingestehen, was sich ändern muss. Erst dann sehen wir Zusammenhänge und das größere Gesamtsystems und verstehen unsere Rolle darin. Auch wenn wir realisieren, dass es nicht weitergehen kann wie bisher, ist es eben gar nicht so leicht, sich entsprechend zu verhalten. Veränderung und neue Handlungsweisen sind manchmal anstrengend. Selbstreflexion hilft uns dabei, unsere eigenen Bedürfnisse und Werte zu hinterfragen und darin Motivation für ein nachhaltiges Leben zu finden. Nachhaltigkeit geht nicht ohne Selbstreflexion. Ein erster Schritt, um die globalen Herausforderungen effektiv anzugehen, ist also der Blick nach innen.

Weiterführende Links:

Eine Empfehlung zum Anschauen: das Video „How your climate emotions can save the world“ mit Katharina Van Bronswijk von den Psychologists for Future.

Die eigenen Werte definieren – mit dem Test von Ein Guter Plan.

Hier eine einfache, freudvolle Methode zur Selbstreflexion: Systemische Filmanalyse

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2022). Nachhaltigkeitsziele verständlich erklärt.

World Commission on Environment and Development (1987). Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future. 

Ein spannender Artikel über Mindest und Leadership, Englisch.

Zur Autorin Lena M. Kaufmann

Lena unterstützt DeSelfie mit ihrem Wissen in nachhaltigem Wirtschaften und innerer Entwicklung. Als Ökonomin und Strategieberaterin unterstützt sie Organisationen auf dem Weg in eine sozial gerechte, nachhaltige Zukunft. Ein achtsamer Umgang miteinander und den eigenen Ressourcen entsprechend, sind ihr dabei ein großes Anliegen. Ihre Mission ist es, Menschen zu ermutigen, ihre eigene Stärke zu erkennen und Verantwortung für eine bessere Welt zu übernehmen. Als freie Texterin macht sie diese Zukunftsideen greifbar.

 

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