Drei Seiten am Tag
Johanna Jacobi über eine einfache und wirkungsvolle Methode der Selbstreflexion: die Morgenseiten.
Johanna ist Theaterkünstlerin und Wortschmiedin, heimisch in London und München. Nach ihrem Schauspielschulabschluss gab ihr Julia Camerons Klassiker „Der Weg des Künstlers“ Halt. In diesem seit Veröffentlichung vielfach übersetzten und neu aufgelegten Kursbuch wird der Lesende über zwölf Wochen hinweg in der Entdeckung des eigenen kreativen Selbst begleitet und geleitet. Für Cameron ist es ein spiritueller Pfad, die Morgenseiten sind eines der Grundwerkzeuge des Kurses. Um davon zu profitieren, muss man sich weder als künstlerisch noch als spirituell verstehen.
Was sind die „Morgenseiten“?
Im Grunde genommen ist es ganz einfach: Jeden Morgen schreibt man drei Seiten lang handschriftlich einen Bewusstseinsstrom nieder. Das kann in einem Notizbuch sein – oder auf losen Blättern. Um seinen inneren Kritiker zu mäßigen, empfiehlt Cameron, die Morgenseiten erstmal nicht zu lesen. Nach einigen Wochen kann einem das Durchlesen hilfreiche Einblicke für die Selbstreflexion schenken, weswegen sich dann ein Notizbuch empfiehlt.
Die Morgenseiten sind keine hohe Kunst – eigentlich sogar gar keine Kunst. Im Grunde genommen, sagt Cameron, geht es nicht mal ums Schreiben – weder grammatikalische Richtigkeit noch inhaltliche Verständlichkeit sind vordergründig. Es geht um den Ausdruck von oft unverarbeiteten Impressionen, Gedanken und Gefühlen, und das kann ohne ambitioniertes Ziel oder spezifischen Zweck den Weg für persönlichen und kreativen Erfolg bahnen, und eine ehrliche und bewusste Beziehung zu Umwelt, Mitmenschen, und zu sich selbst fördern.
Gewohnheit statt Disziplin
Für manche Menschen mag es einfach sein, einen weiteren Punkt auf die To-Do-Liste zu setzen, noch etwas abhaken zu können fühlt sich vielleicht „produktiv“ an.
Für andere aber ist es eine zusätzliche Sache, die man irgendwie in den Tag zwängen muss, oder – wenn man viel Zeit aber wenig Motivation hat – zu der man sich aufraffen muss. Die Morgenseiten sollten nicht unter dem Druck der Produktivität oder Verpflichtung stehen, sondern sind eher wie die erste Tasse Tee oder Kaffee gedacht – oder viel „banaler“: in einer Kategorie mit Hautpflege oder Zähneputzen.
Die Morgenseiten sind nur für einen selbst allein, in Vorbereitung auf den Tag, und als tägliche „Bewusstseinspflege“ – als Gewohnheit. Das hilft den Pflichtfaktor gering zu halten, und auch die Schuldgefühle, falls man das Schreiben ausgelassen hat. Es ist wichtig, dass die Morgenseiten einem dienen, und nicht andersherum. Ich fühle mich ja auch nicht schuldig, wenn ich morgens keinen Tee trinke. Ich fühle mich aber besser, wenn ich es tue.
Was man erwarten kann
Erwarten kann man Trotz, Ausreden, Dankbarkeitsgefühle, „Blödsinn“, Aha-Erlebnisse, Zorn und Erkenntnisse; und außerdem, dass man anfängt, die Morgenseiten zu vermissen, wenn man sie mal länger auslässt. Cameron macht darauf aufmerksam, dass die Tage an denen man den meisten Widerstand verspürt, die Morgenseiten zu machen, oft die sind, an denen unangenehme, aber wichtige Themen hochkommen, bei deren Bearbeitung einem die Morgenseitenpraxis unterstützen kann.
So können in einem einzigen Eintrag vergrabene Probleme hochkommen und sich auf der letzten Seite vielleicht schon Lösungsansätze für sie zeigen. Das tägliche „Schreiben“ ist häufig, wie Cameron sagt, auch einfach ein „brain drain“ – eine „Gehirnentleerung“ (Cameron, 1995, 2019), die einem ermöglicht, den Hintergrundlärm im eigenen Kopf zu reduzieren, und größere Präsenz zu kultivieren.
Glaubenssätze überprüfen
Auf der anderen Seite hat man so auch Raum, sich mit Glaubenssätzen auseinanderzusetzen, die man noch nicht hinterfragt hat, zu verstehen, wie man sich vielleicht selbst im Weg steht, und letztendlich die Beziehung zu sich selbst zu pflegen. Und zwar nicht nur dann, wenn man entgegen aller modernen Wahrscheinlichkeit einen ungestörten Moment in der Natur verbringt, oder mal mit leerem Akku im Zug sitzt, sondern auf täglicher Basis.
Dieser verlässliche Dialog mit sich selbst setzt persönliches Wachstumspotential frei, oft besonders an den Punkten, die einem besonders schwierig vorkommen. Außerdem kann einem die Praxis helfen Prioritäten zu setzen, lähmenden Perfektionismus zu bekämpfen, sowie Kreativitätsblockaden aufzulösen. Cameron schlägt vor, das genauer zu lenken, indem man sich vor Beginn eine Frage überlegt, die man sich dann zu Anfang des Schreibens selbst stellt.
Der Gedankenfluss bewegt sich dann oft ohne Zutun um das Thema, was auch in kreativen Prozessen oder bei der Entscheidungsfindung hilfreich sein kann. Die Morgenseiten sind eine Form der Selbstreflexion, die durch Wiederholbarkeit und Struktur, durch die Freiheit von Bewertung, und durch verschiedenste Gefühlslagen hindurch zu persönlichem Wachstum und größerem Zugriff auf authentische Kraft im eigenen Leben führen kann.
Leitfaden
- Man schreibt allmorgendlich drei Seiten Bewusstseinsstrom handschriftlich nieder.
- In den ersten Wochen sollte man die Morgenseiten nicht durchlesen.
- Man sollte nichts korrigieren oder abkürzen.
- Es gibt volle Erlaubnis für Irrelevanz, grammatikalische Fehler, Wiederholungen, etc.
- Die Morgenseiten sind nicht Kunst (Cameron, 2019).
- Gewohnheit und Ritual gehen über Pflicht und Disziplin.
- Mann kann nichts verkehrt machen. (Cameron, 2019)
- Die Morgenseiten sind eine Pflege der Beziehung zu sich selbst.
- Mit den Morgenseiten hebst Du Dein kreatives Potential – die Seiten können Lösungsansätze beinhalten.
- Die Morgenseiten können emotional und befreiend sein.
- Im Dialog mit sich selbst kann man Präsenz und Ehrlichkeit kultivieren und die eigene kreative Kraft wertschätzen lernen.
Tipps
Die Morgenseiten sind wie die saisonale Wasserzirkulation eines Teichs – die Ablagerungen vom Grund werden mit an die Oberfläche geschwemmt. Es ist nützlich, sich eine Strategie zurechtzulegen, die einen bei unerwarteten Emotionen erdet und den Körper ausgleicht. Mir hilft die Wechselatmung, bei der man durch unterschiedliche Nasenlöcher ein- und ausatmet, und regelmäßige Bewegung. Damit ein niedriger Blutzuckerpegel nicht zu emotionaler Überforderung beiträgt im Zweifelsfall lieber vor den Morgenseiten frühstücken.
Bei Depression, Angststörung oder anderen psychischen Erkrankungen wäre meine Empfehlung, mit behandelnden Experten oder vertrauenswürdigen Personen gemeinsam über die Auswirkung der Morgenseiten zu reflektieren und sich bei Überforderung eine Pause zu nehmen.
Quellen
Cameron, J. (1995) The Artist’s Way: A Spiritual Path to Higher Creativity. London: Pan Macmillan.
Cameron, J. (2019) Der Weg des Künstlers: Ein Spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität. Übersetzt von Anna Follmann und Ute Weber. München: Knaur.
DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.