Eine persönliche Reflexion über den Geschmack von Tradition, Veränderung und Heimat, und ein Jahr des bewussten Kochens
Johanna Jacobi ist eine Theaterkünstlerin und Wortschmiedin aus London und dem Fünfseenland. In einer Reihe von Beiträgen hat sie ihre Leidenschaft für Essen, ihre Liebe für den Kreis der Jahreszeiten, und ihr Bedürfnis die lebendige Welt zu schützen in einen Topf geworfen. Dabei durfte sie geschmacklich tiefer in ihre Heimat eintauchen und doch gedanklich einmal um die ganze Welt reisen. In diesem Artikel finden wir uns im Winter wieder, mit Gedanken an Kälte und Wärme, an Heimat und Nicht-Heimat. Hier sind die Beiträge zu Kochen im Frühling… –
bewusstes Kochen im Sommer,….
Home for Winter
“La lumière et ja joie sont derrière les vitrines“, … Die Behaglichkeit des eigenen Wohnzimmers, eines Ortes, an dem man sich wirklich zuhause fühlt, die Sehnsucht nach dem Zuhause, wo man vielleicht nicht sein kann – Heimat und Mittwinter gehören irgendwie zusammen. Und in jedem Haus gibt es wohl eigene Bräuche, um dieses Gefühl der Geborgenheit und Festlichkeit zu kreieren. Als ich ein Kind war, gab es bei uns genau einen Zeitpunkt vor dem ersten Advent, an dem man schon mal einen einzelnen Lebkuchen kosten durfte: nach dem Laternenumzug am St.-Martins-Tag.
Ansonsten sah man ganz strikt in die andere Richtung, wenn man im Supermarkt an den Weihnachtsaufstellern vorbeikam und verschmähte in der Schule die großzügigen Angebote der anderen Kinder. Vielleicht mit einer übertrieben hochnäsigen Prise Mitleid für andere – für die der erste Lebkuchen des Jahres nicht so ein spektakuläres Ereignis war, dass es sich lohnte ihn bis zu Papas heiligem ersten Adventsteller zu aufzusparen.
Mittwintergeschmack
Wenn ich mir überlege, was für mich der Geschmack des Winters ist – dieser Geschmack, der lauter als alles andere „gemütlich daheim sein“ tönt – dann denke ich an Zimt, und Kardamom, Marzipan, Schokolade, Mandarinen und Orangen. Nichts davon wächst hierzulande. Und einerseits macht das Sinn. An Weihnachten kommt eben immer noch all das auf den Tisch, was vor Zeiten einmal besonders teuer und edel gewesen ist. Ich habe gemerkt, dass ich die Bemühung schätze, eine Zeit ganz besonders zu gestalten. So entsteht eine Feierlichkeit, die uns, wie ich finde, immer mehr abhanden kommt.
Aber heute sind die erwähnten Köstlichkeiten eben alle gar nicht so schwer oder allzu teuer zu bekommen. In London kann man im Sommer genauso Clementinen kaufen wie im Dezember – Sakrileg! Ich freue mich an Weihnachten auf die Zimtsterne, aber es ist vielleicht gar nicht so unpassend, dass ich dieses Jahr ein paar Tage bedacht versuche, diese Gemütlichkeit und Feierlichkeit ein bisschen regionaler einzufangen, mit Holundersaft und Fürstenfeldbrucker Walnüssen, deftigen Pies, Suppe, Wurzel- und Feldsalat, eingemachten Tomaten aus dem Sommer, Bratäpfeln, bayerischem Ingwertee, und Quittenbrot, um ein paar zu nennen.
Speisekammer
Aufgehoben
Zum Winter gehört Vorbereitung. Und obwohl ich nur drei Tage ganz bewusst regional gegessen habe, bin ich schon seit dem Sommer damit beschäftigt, einzumachen und zu trocknen, was ich jetzt mit dem noch verfügbaren regionalen Angebot kombinieren konnte. Und ich sage das nicht, um anzugeben, sondern, weil diese ganze manifeste Vorbereitung auf den Winter auch meine Energie und Freude beeinflusst hat. Nach fast einem Jahreszyklus mit diesem Projekt im Hintergrund, Frühling bis Winter, fühle ich mich irgendwie aufgehoben in der Rundheit dieses Kreises.
Es gibt so Sachen, die weiß man im Kopf, aber noch nicht im Herzen, oder im Bauch, oder wo auch immer sonst im Körper man meint, seine intuitiven Entscheidungen und Gefühle zu beherbergen. Dazu gehört für mich zum Beispiel, dass sich Lebensweise und Gewohnheiten nicht von heute auf morgen ändern lassen, sondern man Prozesse der Anpassung durchgeht, die einen eben auch oft an ähnliche Punkte zurückbringen, die man dann aus einer neuen Perspektive sieht. Langsam merke ich, dass sich das, was ich gelernt habe über das letzte Jahr in mir setzt und dass ich mich freue, im Frühling mit neuen Augen am gleichen Punkt im Jahreskreis zu stehen.
Speisekammer der Resilienz
In einem größeren Kontext wird mir bewusst, was für eine überwältigende Anpassung unsere Gesellschaft gerade im Angesicht der Biodiversitäts- und Klimakrise abverlangt wird. Gerade weil es sehr herausfordernd bis fast unmöglich ist, seine Lebensgewohnheiten von heute auf morgen zu ändern, halte ich diese Zyklen der Anpassung für so wichtig und hilfreich, denn so ist immer auch eine Möglichkeit für Integration vorhanden, die in der „Heute-auf-morgen“-Version keinen Platz findet.
Gewiss ist meine Generation in eine sehr bedrückende und schwierige Zeit hineingeboren worden, in der wir vor einer Herausforderung stehen, die wir auf so einer Skala seit dem Beginn unserer Spezies nicht gehabt haben. Es ist aber auch eine spannende Zeit, in der ich momentan in großem Komfort leben und lernen kann. Noch kann ich mich freiwillig und ganzheitlich anpassen. Für Pessimismus bleibt uns keine Zeit, aber für Kreativität und Staunen soviel Raum. Ich will mir über diesen Kreislauf des Lernens und Umgewöhnens eine Speisekammer der Resilienz anlegen – gefüllt mit Wissen über die Welt, aber auch mit Mut und Selbstkenntnis.
Gewohnheiten, Systeme und Sentimentales
(Gewohnheiten)
Dazu haben mich die Denkanstöße und Themen dieses Projektes immer wieder angeregt – sowohl nach innen, zu meinen eigenen Haltungen und Gefühlen, als auch nach außen auf größere Zusammenhänge und Systeme zu blicken. Was habe ich Praktisches gelernt? Erstmal die ganzen kleinen Sachen: Was gibt es, wo kriege ich es, und wie verwende ich es? Wie meine Mutter mir seit zwanzig Jahren predigt, macht es Sinn, seine Aufmerksamkeit für einen bestimmten Zeitraum einer Sache zu widmen, sodass einem neue Gewohnheiten in die Gliedmaßen übergehen. Durch einen weiteren Blickwinkel habe ich gelernt, mehr Respekt zu haben vor Landwirten und unserem Planeten. Mehr denn je machen Weisheitstraditionen für mich Sinn, in denen individuelle menschliche Gesundheit und die Gesundheit des Erdsystems und sozialer Systeme zusammen betrachtet werden.
(Systeme)
Ist es nicht verrückt, dass wir in einer Zeit leben, in der Privileg nicht bedeutet, sich exotische Lebensmittel leisten zu können, sondern regional einkaufen zu können? Mein Privileg und wie ich es sinnvoll zu nutzen suche, das spielt bei diesem Projekt eine große Rolle. Realistischerweise müssen wir einen Weg finden, wie es normal werden kann, lokale Wirtschaftssysteme an oberste Stelle zu setzen, und damit Menschen überall Zugang zu einer regionaleren Lebensweise zu schaffen. Es fühlt sich oft an, als gäbe es nicht genug, als müssten wir Unentbehrliches entbehren, um anderen Menschen das Nötigste zu verschaffen. So viele Lebensmittel werden aber weggeschmissen und erreichen ja nie die, die sie am dringendsten brauchen. Umso tragischer, wenn wir statt genug von etwas Gutem zu konsumieren, zu viel von etwas konsumieren, was uns weder richtig Spaß macht (wie es richtig leckere Lebkuchen tun) noch gesund für uns ist (Grünzeug).
(Sentimentales)
Was, wenn wir weniger, aber Besseres hätten? Essen, welches uns stärkt, und die Erde, und unsere Gemeinschaften? Nahrung, die wirklich satt macht, weil sie einem das Gefühl von Heimat gibt, nach dem man sich mitten im Winter vielleicht ganz besonders sehnt? Und nicht nur ein oberflächliches Gefühl, sondern eines, das bis ins Innerste wärmt, weil dahinter Integrität und Langlebigkeit stecken? Von Weihnachten und Konsumgesellschaft brauche ich ja eigentlich nicht anfangen… aber hinter ihr steckt ja auch das künstlich kreierte Leeregefühl, welches uns zuflüstert, dass das, was wir haben noch nicht genug ist.
Von diesem Gefühl hat sich einiges im Übermaß in viele Weihnachtstraditionen geschlichen. Im Winter und an Weihnachten ist eben was vertraut und lieb ist. Wie verändern wir Gewohnheiten, an denen wir hängen und bewahren doch die Feierlichkeit? Oder bewahren wir sie auch gerade durch Veränderung? Weil Weihnachten so besonders eng mit Traditionen verbunden ist, und eben auch mit Essen, fallen mir gerade hier die Herausforderungen und Möglichkeiten bezüglich Veränderung und Bewahren ein. Und zeigen mir, dass diese beiden Hand in Hand gehen sollten.
Jedes Jahr holen wir traditionell Immergrün ins Haus, in Form von Zweigen, Kränzen und Weihnachtsbäumen. Immergrün, das sich nie verändert, richtig? Das eben auch im tiefsten Winter noch Leben in die Bude bringt? Aber um immer grün zu sein, befindet sich ein Nadelbaum in ständiger Veränderung (Durrell, 1983), manchmal etwas schneller, manchmal etwas langsamer, nie so radikal wie ein Laubbaum, aber eben deswegen bleibt er immer grün. Ich denke, um den Kern von dem, was uns lieb ist zu erhalten, müssen auch wir diese stetige Veränderung weiter machen, und Festlichkeit immer neu in unseren Herzen, und eben auch in unseren Taten, leben.
Quellen
Fotos: alle Johanna Jacobi
Weihnachtslieder Quellen
Bing Crosby (1945) I’ll be home for Christmas [download]. UMG Recordings. Verfügbar über https://open.spotify.com/track/4lftz0V8DZhWSVtL4GrzMH [aufgerufen 29. Dezember 2023].
Édith Piaf (2008) Le Noël de la rue [download]. Parlophone Records. Verfügbar über https://open.spotify.com/track/4yrqibBnLnWa3jbbck32WU [aufgerufen 29. Dezember 2023].
Jona Lewie (2008) Stop The Cavalry [download]. London: Stiff Records Limited. Verfügbar über https://open.spotify.com/track/2bPQuniBB9x0fRtxDly0kr [aufgerufen 29. Dezember 2023].
Quellen
Diessl, E. Und Halmbacher, V. (2020) Unser Heimisches Superfood. Zweite Edition. München: Servus Verlag.
Durrell, G. (1983) Der Große Naturführer für die Familie. Übersetzt von Dr. S. Schmitz. München: Christian Verlag.
Ginzel, L. (2023) Die wahren Preise von Lebensmitteln. Schrot und Korn, 13 März. Available from https://schrotundkorn.de/umwelt/wahre-preise-lebensmittel [accessed 7 April 2023].
Kimmerer, R. (2021) Geflochtenes Süßgras. Berlin: Aufbau Verlage.
Langford, S. (2023) Rooted: How Regenerative Farming Can Change the World. Dublin: Penguin Random House.
Saladino, D. (2022) Eating to Extinction: The World’s Rarest Foods and Why we Need to Save Them. UK: Penguin Random House.