Wie geht das? Ein Gespräch über Digitales Selbst, Selfies und DeSelfies
In diesem Dialog mit Dr. Astrid Dobmeier geht es um Digitales Selbst und Selbstreflexion. Und sie gibt Einblick in die Historie und den Nutzen von DeSelfie als Reflexions- und Impulsraum.
Vielen lieben Dank an Dr. Carla Hegeler und Reet für den wunderbaren Dialog, die Tiefe und das Interesse am Thema Selbstreflexion.
Der Artikel wurde zunächst auf LinkedIn hier gepostet…– Danke dafür!
Carla: Ich bin mächtig beeindruckt von Deinem Portal ‚DeSelfie‘. Wie bist Du darauf gekommen, diesem Thema einen so breiten digitalen Raum zu widmen?
Ändern können nur wir selbst uns
Viele Jahre verstrichen. Bis ich begonnen habe, mich tiefer mit mir selbst zu beschäftigen und mit systemischem Denken. Dann habe ich erst so richtig verstanden und gespürt: Nur ich selbst kann etwas an meiner eigenen Situation und an meinem Denken und Handeln ändern – und dadurch eventuell etwas Gutes zum großen Ganzen beitragen. Sich selbst auf der Spur sein. Klingt so simpel. Und war so erleuchtend.
Carla: Na, da habe ich ja gleich wieder eine Idee zum Schreiben…. Popkulturelle Produkte der 1990er und davor aus heutiger Perspektive … wäre dann auch was für meinen Kollegen und Gitarristen, Roland Mittelmaier…. Aber zurück zu uns…
Wenn Wendepunkte wirklich wenden…
Astrid: Ja, das könnte spannend sein – vielleicht sind wir uns damals sogar begegnet zwischen Talkshow, BRAVO, Indie, PRINZ, Kulturindustrie und Musikkritik. Das war mein ‘Früher’. Gibt es in Deinem Leben eine Art Wendepunkt im Wahrnehmen, Erkennen, Spüren, den Du im Nachhinein benennen kannst, Carla?
Carla: Ja klar, eigentlich mehrere: Der frühe Tod meines Vaters, der mich als gerade fertig gewordene Abiturientin schnell auf die eigenen Füße warf – rein in die Selbstverantwortung und -reflexion über eigenes Tun und Werden. Dann Familie, die Kinder – rein in die Erkenntnis, der zu steuernden Unsteuerbarkeit! Und meine Ausbildungen vor allem bei Hephaistos. Und da vor allem die Idee, dass zu wissen, ‚wer‘ in einem spricht, viele Spannungen erklären und lösen hilft – von eigener, enger Attribution (‚So bin ich halt!‘) hin zu mehr Selbstkontingenz, ja es/ich könnte ja auch (ganz) anders sein…. Seele also eher als Prozess, denn als ‚Ding‘ zu denken, zu fühlen, war ein weiterer besonderer Wendepunkt für mich… Fazit: Alle drei Lebenserfahrungen waren wirkliche Perspektiven-Drehpunkte.
Astrid: Danke fürs Teilen, Carla. Es ist so spannend, dass wir anscheinend viele Parallelen haben. Mein Vater ist auch früh verstorben, mich hat das Abschiednehmen von ihm sehr geprägt. Und dann meine Partnerschaft und – und meine beiden Kinder. Und die Frage: Was ist wirklich wichtig im Leben…
Was ist wirklich wichtig im Leben?
Carla: Mmh. Da wendet sich vieles…(sinnt nach) Auch da gäbe es vieles zu reflektieren, aber zurück zur digitalen Version der Selbstspiegelung… Digitales Selbst: Und wie bist Du auf den Titel ‚DeSelfie‘ gekommen? Er suggeriert mir intuitiv: Es geht um mich und zwar weg vom bloßen Sammeln visueller Eindrücke lippengeschürzten Selbstausdrucks hin zu mir und meiner selbst im digitalen Zeitalter.
Astrid: Deine Wahrnehmung trifft den Kern sehr gut, das freut mich, dass das intuitiv ankommt. ,DeSelfie‘ ist auf einer achtstündigen Autofahrt nach Italien geboren. Ich war Beifahrerin auf dem Weg in unser jährliches Urlaubsdomizil. Während die Landschaft an mir vorbeizog, sinnierte ich über meine Lebensstationen, wir hörten alte Lieder, die sie früher im Atomic Café spielten.
Kommunikation, Medien und Systemisches Denken
Heute saßen zwei Kinder auf dem Rücksitz. Ich war angekommen. Und ich dachte: „Wow, was für ein Weg, so viele Umwege.“ Früher hatte ich viel an meinem Leben auszusetzen. Heute nehme ich es wie es ist und weiß, dass alles zu mir gehört. Nicht, dass ich darüber noch nie nachgedacht hätte. Aber auf dieser Fahrt landeten plötzlich so viele Dinge in Kopf und Herz gleichzeitig. Und dann sah ich unsere Jungs auf dem Rücksitz lachen – mit meinem Handy am Werkeln. Einer machte ein Selfie von sich und seinem Bruder.
Digitales Selbst – sich dessen selbst bewusster sein
Und schwupp, da war es wieder: ein Gefühl. Und gleich danach, gedacht: die Encoding-Decoding-Theorie von Stuart Hall und ich wusste, jetzt macht mein ganzes Wissen um Kommunikation, Medien und Systemisches Denken Sinn. Digitales Selbst – sich dessen bewusster sein. Ich sah es vor mir. Was wir als Gesellschaft in Zukunft brauchen könnten ist: mehr DeSelfie als Selfie. Detox für das eigene Selfie sozusagen… Ich wünsche mir, dass andere auch noch viel mehr Gutes in ihrem Leben erkennen und dass die Auswirkungen dem jeweiligen Umfeld und Umwelt guttun.
Von analog und digital Reflexivem
Astrid: Wie erlebst Du das denn in Deinem Alltag, Carla – welche Rolle spielt Selbstreflexion in Deinem Leben und in Deinem Umfeld?
Carla: Selbstreflexion findet eigentlich jeden Tag statt, weil jeder Tag geprägt ist von sozialer Rückmeldung, direkt oder indirekt. Man kommt ja gar nicht umhin sich und sein Umfeld wahrzunehmen, nachzuspüren und zu reflektieren, Verhalten ggf. anzupassen, mehr, weniger oder: nein, so bleibt es! …. Meinen Kindern sage ich, dass sie zum Lernen, nicht zum Wissen, in die Schule gehen. Und das ist eigentlich auch meine Haltung: Ich lerne ständig etwas über mich und mein Umfeld dazu, im Guten wie im Schlechten, wenn man so will.
Astrid: Ja, wie schön wäre es, wenn viele so denken würden. Stell Dir nur mal einen typischen Klassen-Elternabend vor. Dort sitzen dann Eltern, die so tun, als ginge es ums Lernen fürs Leben. Im Hintergrund kämpfen sie dann aber für ihre Kinder um die bessere Note und entwerten die Lehrenden. Es geht Eltern im Sinne ihrer Kinder häufig um Leistung und eigene Vorteile. Und an diesen Themen arbeiten die Erwachsengewordenen dann später oft ein Leben lang: sich selbst nicht bloß über Leistung zu definieren. Vielleicht haben manche Menschen auch deshalb eine große Scheu davor, sich selbst zu hinterfragen… – dabei kann man das sehr gut ressourcenorientiert.
Carla: Stimmt, m.E. weil es zu sehr an den eigenen Selbstwert gekoppelt ist und damit gefährlich. Da kann man in Feedbacktrainings lange darüber fabulieren, dass Feedback sich auf das Verhalten und nicht auf die Person bezieht. Das macht der Empfänger dann von alleine…
Und zurückgefragt: Was hat Selbstflexion dann mit unserem Rollenverhalten in Teams, ja in Organisationen insgesamt zu tun? Irgendwie ist es doch die Gegenspielerin zur Handlung?
Selbstreflexion als Wachstumsinstrument
Astrid: Weniger Gegenspielerin, mehr gute Partnerin – als Wachstumsinstrument. Alles hängt mit allem zusammen und Organisationen drücken sich durch die Kommunikationsbeziehungen der Progatonisten aus. Und ich spüre auch heute noch sehr viel Schauspiel, Zur-Schau-Stellung, die Produktion eines Abbilds – und das müsste alles gar nicht sein, wenn die Menschen sich trauen würden, hinter die eigene Fassade zu blicken. Vor allem funktioniert das heute gar nicht mehr, junge Menschen hinterfragen Strukturen viel mehr als früher noch, die durchschauen diese (Macht-)Spiele schnell.
Carla: Klar, da gibt es einerseits individuelles Impression Management (Goffman) oder andererseits wie Stefan Kühl das für das System bezeichnen würde, eine Schauseite in und an der Organisation. Auch das sind ja Formen von Kommunikation.
Kongruente Kommunikation und Digitales Selbst
Astrid: Ja, richtig. Die Frage ist: Was macht diese Form der Kommunikation mit uns? Mich hat da v.a. Virginia Satir und der Gedanke der kongruenten Kommunikation schon früh geprägt: Ich bin mir meiner selbst bewusst, ich kann mich ins Gegenüber hineinversetzen – und mir ist der Kontext gewahr. Ich kann nur bei mir selbst beginnen. Als Führungskraft und als Mitarbeitender*. Als Teilhaber und Teilgeber.
Stellen wir uns selbstreflektierte Führungskräfte vor, die ihre Stärken kennen und ihre Grenzen. Die sich trauen, sich selbst zu hinterfragen, ihre eigenen Muster entlarven und sich daher selbst lachend über die Schulter sehen können, wenn sie agieren oder reagieren. Die Feedback hören, reflektieren und sortieren können. Die sich selbst verstehen, ihr Ego zurücknehmen und vor allem eines tun: zuhören. Und dann doch Entscheidungen treffen und damit nicht mehr jedem gefallen. Das kann man mit Training anstoßen, dann aber geht es um die Reflexion des eigenen und des Zwischenraums zum anderen.
Digitalisierung im Unternehmen beginnt mit Selbstreflexion
Daher ist mein Credo auch: Digitalisierung im Unternehmen beginnt mit Selbstreflexion. Transformation ist ein unglaublich komplexes Unterfangen und vermutlich zieht mich das Thema deshalb so an. Das Komplexe habe ich schon immer geliebt…- den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen … und dann intuitiv den Weg beim Gehen verstehen. Da wären wir wieder beim Wald.
Die Pandemie stößt viele, noch größere Überlegungen bei mir an … Nachhaltigkeit… das Materielle minimalisieren. Beziehungen. Was ist wirklich, wirklich wichtig? Ich nenne das Selfie-Distancing…– Selbstreflexion in digitalen Zeiten geht durch eigenes Innehalten. Und die Herausforderungen hierfür sind enorm gewachsen in unserer medialisierten, schnelllebigen Welt.
Digitales Selbst und Brückenkompetenz
Carla: Das ist ja eigentlich ein Widerspruch, Innehalten und Schnelllebigkeit, meine ich. Braucht es in einem erweiterten Sinne die von Dir eingeführte Brückenkompetenz (DeSelfie-Artikel über die Balance zwischen Agilität und Entschleunigung)?
Und braucht es nicht auch ein spiegelbildliches Geführtentraining… im Sinne des Digitalen Selbst? Klar, fast alle FK sind auch geführte Mitarbeitende, aber die Perspektive ändert sich, wenn die Rolle sich ändert…. Beanspruchen wir sonst für einen Beziehungsprozess die Rolle der Führungskraft nicht allzu sehr?
Neue Schnittmengen im Sowohl-als-Auch
Astrid: Ja, vermutlich könnten wir darin immer besser werden: Statt im ,Entweder-Oder‘ zu verhaften, sich leichtgängig mit Lösungsräumen im ,Sowohl-als Auch‘ zu beschäftigen. So lernen wir aber unsere moderne Welt nicht kennen, daher fällt uns dieser Zugang schwer. Ich erlebe Führungskräfte sehr offen und dankbar, wenn sie für sich neue Schnittmengen denken und spüren lernen.
Carla: .. und wir können uns ja nicht selbst in den Rücken schauen, es braucht für das Ich das Du (Buber), also das Gegenüber, gerade, um bestimmte innere Prozesse durch und im Kontakt anzustoßen – in welcher Rolle auch immer… Sonst badet man u.U. unnötig lang in den eigenen Introjekten, den eigenen Beziehungsverklammerungen. Ist d. E. das digitale Selbst eine weitere innere Repräsentanz, die einen vom Kontakt abhält? Oder haben alle inneren Anteile nunmehr eine digitale und eine ‚echte‘ Seite? Uff, es wird mindestens kompliziert…
Von digitaler Happiness und Bildern, die scheinen
Astrid: Ja, da wären wir wieder bei der Komplexität. Es kann beides sein und es kommt darauf an, wie Du auf das Thema schaust.
Ich biete mal eine Sichtweise an: Das selbstreflexive digitale Selbst könnte das Ergebnis eines Infragestellen dessen sein, was ich als digitales Selbst in Sozialen Medien selbst erschaffe. Und das bewusste Wahrnehmen der eigenen Selbstwirksamkeit: Was genau an diesem Abbild steuere ich – und zwar wie und warum, was habe ich aber beispielsweise nicht in der Hand?
Eine spannende Studie dazu kommt von Donna Freitas. Sie schreibt darüber, wie anstrengend es für die junge Generation ist, möglichst perfekt und fröhlich in den Sozialen Medien zu erscheinen und sie nennt das „The Happiness Effect“.
Digitales Selbst und perfektes Ich
Es ist nicht en vogue, nach außen zu zeigen, wie es einem wirklich geht. Auch wenn es Ausnahmen gibt, ist das Ziel in den Sozialem Medien eher, das perfekte digitale Ich zu erschaffen. Und nicht das imperfekte analoge Ich zu doppeln. Solange ich mit etwas Abstand darauf schauen und vielleicht sogar schmunzeln kann, okay. Und genau dafür könnten Impulse zur Wahrnehmung der Diskrepanz durchaus hilfreich sein…
Carla: Mmh. Und wohin mit den potentiellen Schmerzen, wenn so optimiert, so gnadenlos verglichen wird? Hat man sich früher z.B. mit Julia Roberts oder Robert de Niro identifizieren wollen, und da war ja dennoch irgendwie ein analoger Abstand vorhanden, so kommt es heute zur digitalen Verwechslung / Verschmelzung, man wird zum digitalen ‚ME‘… Das wäre brutal?!
Und das setzt allen Mut voraus, mit dem Nichtperfekten leben zu können/zu wollen und mit dem Selfie kompetent zu spielen, heißt ohne ein eigenes ‚HER‘, also hier dann ohne ein digitales ‚ME‘ zu erschaffen. Es ist, was es real ist/scheint und nicht das, was das Bild abbildet, das ist eben ein Abbild…Und à propos Abbild: Dazu gibt es doch so ein Bild von Magritte ‚Ceci n’est pas une pipe….‘
Digitales Selbst: bewusste Wahl, unbewusste Muster
Astrid: Oh, ein weiteres Feld! Ich kann Dir sehr das Werk von Yayoi Kusama ans Herz legen. Faszinierend, wie wir uns selbst in ihren Spiegelwerken betrachten (und Selfies dabei knipsen und später hochladen…). Ich war schon immer von Medien fasziniert, daher wäre ich vermutlich eine ‚Early Adopterin‘ und sehr aktiv, wenn ich digital native wäre. Dabei wäre ich vermutlich alles andere als mutig gewesen, mein „echtes“ Me zu zeigen. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, LinkedIn als einzigen, professionellen Kanal zu benutzen. Alles andere betrachte ich mit Vergnügen und aus der kommunikationswissenschaftlichen Perspektive von der Ferne.
Carla: Liebe Astrid, dieser Schriftverkehr muss enden, wenn ich auch weiter hätte schreiben können! Und es ist so spannend, denn tatsächlich haben wir beide uns auch noch nie in der wirklichen Welt getroffen. Verrückt, gell? Aber das holen wir nach und fabulieren über ein weiteres Thema, das werden wir finden! Sicher!
Astrid: Unbedingt! So ein spannendes Miteinander, leicht und tief gleichzeitig. Eine wunderbare Brückenkompetenz, die sich hier zeigen durfte. Ich danke Dir sehr für die Initiative.
*sprachliche Formen in der dritten oder grammatikalisch männlichen Person sind hier wie immer und grundsätzlich geschlechtsneutral verwendet und dienen nur der besseren Lesbarkeit.
Das Original ist hier zu finden.
DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.
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