Über das achtsame Spüren im Grün – ein guter Nährboden für Selbstreflexion
Dieses Interview hat Dr. Carla Hegeler mit DeSelfie-Gründerin Dr. Astrid Dobmeier geführt. Wir sagen auf diesem Wege “Danke” für dieses wunderbare Gespräch, das auch auf LinkedIn geteilt wurde. Was für ein herzlicher, leichtgängiger Austausch. Vielen Dank an Carla und Reet. Über den “grünen Effekt” in digitalen Zeiten.
Carla: …Waldbaden, unbefangenes Spüren des Selbstverständlichen, des Unselbstverständlich-Gewordenen. Wie verbinden sich Waldbaden und Digitalisierung? Coaching beim Spazierengehen, Steigerung Waldbaden? Und was hat das mit Selbstreflexion, Self-Care, Spürsinn und Bewusstheit zu tun? Vielleicht sogar mit einem alternativen Weg zu mehr persönlicher Präsenz?
Astrid: Anders als beim Spazierengehen geht es um absichtsloses Schlendern. Um Entschleunigung und Achtsamkeit. Viel Schweigen. Staunen, Sehen, Hören, Riechen, Spüren, Fühlen. Das alles ist nach so viel Digitalem und Pandemiegeschehen wie ein Kurzurlaub zur eigenen Seele. Unsere Sehnsucht nach dieser ursprünglichen Verbindung, die wir alle als Kinder kennengelernt haben. Ich kann heute ein sehr moderner Digitalarbeitender* sein – und gleichzeitig mit der Natur verbunden. Es geht … beides!
Wenn der Wald spürbar wird…
Astrid: Dass beides gut zusammengehen kann, das haben mich meine Aufenthalte in Japan gelehrt, dort ist das Waldbaden beheimatet. Hier wie dort: Einerseits ist alles so technisch, modern, hip, digital – anderseits die Sehnsucht nach Kontemplation, Ruhe, Natur, Nichtwissen. Für viele unter uns ist es jetzt an der Zeit, beides in das eigene Leben zu integrieren, das spüre ich, die ich seit vielen Jahren digital arbeite, so deutlich wie nie zuvor.
Carla: Ah! Individuelle Entschleunigungswünsche in der digitalwirtschaftlichen Beschleunigung und allgemeine Pandemiemüdigkeit nicht zuletzt aufgrund der Reizarmut und Unkörperlichkeit im eigenen Leben – zwei der vielen aktuellen Spannungsfelder.
Wo meine Bedürfnisse zuhause sind… und was sagt Google?
Astrid: Und da sind wir wieder bei der Selbstreflexion: Ich brauche erst einmal eine gewisse Wahrnehmung für mich selbst und meine Bedürfnisse: Wie geht es mir, was brauche ich, um mich selbst zu spüren, wie schaffe ich es, mein Online- und mein Offline-Leben in Einklang zu bringen, was sagt mein digitales Selbst? Und: Wie geht es den anderen, weil es mir geht, wie es mir geht? Und überhaupt, wer bin ich – und wenn ja, was sagt Google? Da wären wir also bei meinem Lieblingsthema…
Carla: Da horch ich genau hin, was sagt Google denn? Bisher kannte ich nur die Antwort von Precht: Wer bin ich und wenn ja, wieviele … Und: Erzähl uns doch ein bisschen mehr über Deine Erfahrungen in Japan: Auch da gibt es ja einige sehr spezifische Phänomene wie z.B. den Tod durch Überarbeitung (Karoshi). Sicherlich ist das mit der pandemiebedingten Entgrenzung von Privatleben und Beruf nicht besser geworden, oder? Oder ist es ganz anders?
Astrid: Spannende Frage, das mit Google und Precht, richtig. Ich liebe diese Frage und auch, wie Menschen ihrer eigenen Antwort auf die Spur kommen, im Prechtschen Sinne wie auch im digitalen: Google Dich doch mal selbst und schau, wie selbstbestimmt Du im weltweiten Netz sichtbar wirst – und wie sich das anfühlt.
Carla: Das ist eine Idee! Wird nachher gleich umgesetzt…
‚Her‘
Astrid: Zu Deiner Frage nach spezifisch japanischen Phänomenen dieser Zeit: Manche Japaner geben sehr viel Geld für Apps aus. Es gibt für jeden Teil des Lebens digitale Angebote. Und virtuelle Freunde, da kommen wir dem Gedanken des Films „Her“ schon sehr nahe. Kennst Du das Phänomen der virtuellen Anime-Ehefrau? Ich verlinke Dir das hier in einem unserer Artikel. Ist schon wieder fünf Jahre alt und fühlt sich immer noch an wie Zukunft. Oder sieh Dich einfach nach “Lovot” um – auch wundersam.
Homeoffice ist in Japan platzbedingt für viele schwierig. Wer in Tokio wohnt, freut sich darauf, für die Arbeit das Haus zu verlassen und Raum zu gewinnen. Die gelebte kulturell-kollektiv orientierte Distanz-Kultur – Verbeugen statt Händeschütteln – hilft jedoch bei der Bewältigung der Pandemie, denn Japaner vermeiden Körperkontakt von jeher mehr als wir. Insofern könnte es sein, dass sie auch nicht so viel Verlust an der Stelle spüren wie wir das tun.
Falls jemand unter den Lesenden Erfahrungen dazu teilen kann, ich freue mich über Austausch hierzu! Dass sich eine so kollektiv orientierte Gesellschaft in Richtung Vereinzelung entwickelt, finde ich bemerkenswert und gleichzeitig logisch.
Carla: Wieso kommt gerade das individuelle Waldbaden aus Japan, in welcher Tradition steht es?
Astrid: Interessant, dass Du es als individuell einstufst. Das Spüren ist es wohl, da hast Du recht. Und gleichzeitig ist es überhaupt nicht individuell, denn in Japan geht man selbstverständlich mit einer Gruppe in den Wald. In Japan ist das dann eine Kassenleistung und gehört zur Gesundheitsprophylaxe.
Carla: Erstaunlich!
Astrid: Die gesteigerte Form ist die japanische Gehmeditation im Waldbaden, die ich auch mit deutschsprachigen Gruppen durchführe und die für viel Erstaunen sorgt: Wir gehen sehr, sehr langsam hintereinander. Wie fühlt sich die totale Entschleunigung an? Und: Wie fühlt es sich an, wenn immer einer in seinem Tempo führt – und die anderen sich anpassen? Ich bin fasziniert von der Wirkung dieser Intervention… das regt jedenfalls sehr zum Wahrnehmen, Spüren und Reflektieren an. Da wären wir wieder beim Thema…
Carla: Ja, diese Gehmeditation als Teil des Waldbadens ist dann tatsächlich kollektiv-systemischer als ich bisher dachte und nicht so getrennt konzipiert wie viele Beziehungsphänomene, in unserer Welt häufig dargestellt werden: Du sprichst vom Führen und sich führen lassen, das sind ja zwei Seiten einer Medaille, die miteinander schwingen oder verkanten. Wie ein Tanz auch und genauso anspruchsvoll ….
Waldbaden: Quellen
Kannst Du uns denn noch eine spannende, gern auch digitale Quelle zum Thema ‚Waldbaden‘ für diejenigen unter unseren Lesenden nennen, die tiefer einsteigen wollen – oder sollen sie googlen 😊? Und hast Du noch ein paar Rahmendaten: Wie lange dauert so ein Waldbaden, was für Voraussetzungen gibt es für den einzelnen, die Gruppe, wie groß sind solche, auch Deine Gruppen?
Astrid: Das teile ich gerne. Ich habe eine analoge Buchempfehlung, das ist Li, Qing (2018): Die wertvolle Medizin des Waldes, Hamburg … und für alle, die es gern fundiert-wissenschaftlich und digital mögen, einmal die Gesellschaft für Forstmedizin hier http://forest-medicine.com/eindex.html und die Internationale Gesellschaft für Natur- und Forstmedizin https://www.infom.org .
Ich biete Waldbaden für Teams und Gruppen von bis zu 12 Personen an, entweder einen halben – oder einen ganzen Tag. Mitmachen kann jeder Mensch ab 16 Jahren, der fit genug ist, um spazieren zu gehen. Wer mehr wissen will, wie ich das genau mache und was das Angebot beinhaltet, dem schicke ich gerne Info-Material. Unternehmen, die Interesse haben, finden in der Regel über Empfehlungen zu mir. Und für offene Gruppen gibt es eine Warteliste.
Mit ‚Her‘ in den Wald – Waldbaden?
Carla: Und eine letzte Frage: Ich komme noch einmal auf die von Dir erwähnte virtuelle „zuckersüße“ virtuelle Ehefrau zurück, da ich mich auch an einen japanischen Kuschelroboter erinnere, den ich auf der SXSW in Austin (Texas) 2019 im Arm hatte – und mich über Reales und real Irreales wunderte.
Man lernt ja nie aus: Wäre denn ein hybrides Waldbaden für Japaner zukünftig denkbar: Mit ‚Her‘ zum Waldbaden? Ganz anders irgendwie…. Oder ist das dann doch voneinander zu trennen? Machen echte Beziehungen und echter Wald nicht einfach doch glücklicher?
Astrid: Wie cool, dass Du dort warst, großartig! Dein grüner Roboter packt uns jedenfalls voll beim Kindchenschema-Effekt. Ich sag mal so: Möglich ist erst mal alles – und vielleicht können sich das auch Otakus (jp. Für ’Nerds‘) aus der deutsch-sprachigen Welt vorstellen. Ansonsten empfehle ich eher: analoges Erleben. Handy auf Flugmodus.
Carla: Liebe Astrid, ich danke Dir herzlich für diesen so besonderen und vielseitigen Austausch mit einem so ganz anderen Thema aus einer so ganz anderen Kultur! Es hat mir sehr viel Freude bereitet, Deinen Gedanken in unserem digitalen Ping-Pong zu folgen und merke nun, wie wir so viele Facetten in diesem kleinen Text gestreift haben. Irgendwie fast so bunt wie die Eindrücke, die man im Wald gewinnt. Ich danke Dir wirklich sehr dafür!
Astrid: Sehr gerne. Ich habe zu danken, für mich fühlt es sich schon fast wie eine kleine, digitale, bunte Brieffreundschaft an. Wie facettenreich, inspirierend – so schön! Und wenn die Strokes wieder mal in Texas spielen sollten, komme ich nächstes Mal vielleicht mit. Obwohl ich nach unzähligen Popkomm-Jahren eigentlich für mehrere Leben genug Showcases gesehen habe…
*Sprachliche Formen in der dritten Person oder der grammatikalisch männlichen sind in diesem Gespräch ausdrücklich geschlechtsneutral verwendet und dienen schlicht der besseren Lesbarkeit.
DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.
Hier geht es zum Original auf LinkedIn – ein guter Lesetipp, alles rund um “Nachgespürt”.
Schreibe einen Kommentar