Bewusst einen Film sehen – und sich im Anschluss Fragen stellen
Es gibt viele Momente im Leben, die uns zur Reflexion inspirieren können. Oder anders herum gedacht: Wir können die Momente der Reflexion auch aktiv ins Leben holen, wenn wir das wollen. Einen oft sehr lohnenswerten Reflexionsraum bietet das Medium Film. Das heißt nicht, dass wir ab sofort und immer jeden Kino- oder Fernsehfilm, jede Netflix- oder Amazon-Prime-Serie analysieren, hinterfragen und mit uns selbst in Kontext betrachten und reflektieren müssen. Das wäre auf Dauer ganz schön anstrengend! Und verkopft!
Das Medium Film kann und darf natürlich auch einfach nur Spaß machen – dem Abschalten, Loslassen, Träumen, Abschotten von der Realität dienen. Keine Frage. Nicht umsonst beschäftigen sich ganze Forschungssstränge in der Medienpsychologie mit sogenannten „Uses-and-Gratification-Ansätzen“. Die befassen sich mit Eskapismus und Medienkonsum als Alltagsflucht. Wir alle wissen: Film kann zum Spannungsabbau extrem hilfreich sein.
Film einmal bewusst anschauen
Wenn wir Energie und Lust haben, Filme einmal anders anzuschauen, dann bietet sich die Systemische Filmanalyse an. Auf diese Art können wir uns ganz spezielle Filme bewusst heraussuchen – und diese einmal unter anderen Aspekten betrachtet anschauen. Also danach: erst einmal wirken lassen. Nicht sofort umschalten, twittern, weiterschalten, einen weiteren Film ansehen oder durch You-Tube-Kanäle skippen. Nein. Nach dem Schauen das Gesehene bewusst wirken lassen. Entschleunigen.
Programmfilm statt Blockbuster
In der Regel eignen sich dafür weniger typische Blockbuster. Was nicht heißt, das wir auch in bombastischen Hollywood-Filmen einen guten Resonanzboden für eigene Überlegungen und Haltungen finden könnten – sondern eher Programmfilme, die eine tiefere Reflexionebene zulassen. Filme, die Bezug zum eigenen Kulturkreis haben, die alltagsrelevante Themen zeigen, die eher wenig Hauptdarsteller und Nebendarsteller haben, die realitätsnahe Geschichten zeigen.
Film ist das Leben in 100 Minuten
Es gibt genügend Filme, die uns jene Grundthemen liefern, die uns auch im wirklichen Leben beschäftigen. Filmexperte Bernhard Moritz sagt: “Wirkungsvolle Filme versetzen uns in eine Art ,Übergang zwischen Sehnsucht und Erfüllung’. Sie arbeiten mit dem Erhalt dieses Zwischenzustands. Ein Film ist das Leben in 100 Minuten. Ein Film ist das Leben, aus denen man die langweiligen Stellen herausgeschnitten hat.“
Wirkungsvolle Filme liefern uns Grundthemen und Gegensätzlichkeiten aus dem klassischen Drama und der Idee der Heldenreise wie Erhaltung vs. Zerstörung, Triumph vs. Erniedrigung, Wahrheit vs. Täuschung, Erfolg vs. Misserfolg, Angriff vs. Flucht, gewohnte Welt vs. neue Welt, Sinn des Lebens, Karriere, Liebe, Altwerden.
Im Zentrum ist das Wie
Im Vergleich zur klassischen psychoanalytischen Filmanalyse können wir nach dem Schauen des Films die Chance nutzen, und nicht das Warum der Handlungen erforschen, sondern das Wie.
- Wie geht die Heldin / der Held mit der Situation um?
- Was zeichnet ihr / sein Verhalten in bestimmten Situationen aus?
- Wie kommt die Heldin / der Held zu seinen Entscheidungsfindungen?
Am Anfang steht die Filmauswahl
Wir können den Film alleine oder mit mehreren Personen anschauen. Zunächst gilt es die Auswahl zu überlegen. Welchen Film wähle ich aus? Ist er auf Netflix oder Amazon vorhanden, muss ich ihn als DVD besorgen?
Folgende Fragen können bei der Auswahl helfen:
- Inwiefern fand der Film Anklang bei nationalen oder internationalen Film-Festivals und Filmkritik?
- Inwiefern stimmen mich die Kritiken über den Film zuversichtlich, dass er bei mir Resonanz findet?
- Was reizt mich generell an der Handlung?
- Bietet der Film ein Grundthema, das mir wichtig ist und mit dem ich mich auseinandersetzen will?
- Und die wichtigste Frage: Bin ich neugierig auf die Handlung – und bin ich neugierig, was die Handlung und das Gesehene, Gehörte, Erlebte bei mir (und anderen) auslöst?
Generell sind es eher die „leisen“ und scheinbar unspektakulären Filme, die das scheinbar Gewöhnliche zeigen, die am meisten in uns auslösen. Es geht häufig um Konfrontationen mit der Wirklichkeit, um Muster und Glaubenssätze, um das Scheitern als filmisches Element, um Paradoxien und Spannungen, um Übergangsphasen von dem einen zum anderen.
Zehn mögliche Fragen
Nachdem Sie den Film angesehen haben, bieten sich folgende zehn Fragen an. Sie sollten sich ausführlich Zeit dafür nehmen. Notieren Sie sich Ihre Gedanken auf ein Blatt Papier – oder bitten Sie einen in der Runde, wenn Sie mehrere Personen sind, die interessantesten Punkte mitzunotieren.
- Was hat der Film mit mir selbst zu tun?
- Was hat mich beeindruckt am Verhalten der Protagonisten?
- Bei welchen konkreten Szenen, die mir in Erinnerung sind, habe ich etwas gespürt?
- Bei welchen Personen im Film hatte ich das Gefühl, dass mir die Person bekannt vorkommt?
- Welche Filmperson berührt mich am meisten?
- Welche Filmperson löst andere Gefühle bei mir aus?
- In welchen Filmpersonen finde ich Anteile von mir selbst wieder?
- Welche Lösungsansätze im Film sprechen mich an, welche nicht?
- Was würden bestimmte Freunde / der Partner / die Eltern wohl sagen, was sie am Film berührt hätte?
- Welche Erkenntnisse aus dem Film möchte ich für mich weiter verfolgen?
Viel Freude beim Schauen, Reflektieren, sich Finden und Analysieren!
Sie finden die Methode spannend?
In unserem Artikel über Selbstreflexion schreiben wir über weitere Resonanzräume, die wir als Anstoß für Selbstreflexion nutzen können.
Hier gibt es weitere Methoden zur Selbstreflexion.
Interessante Links
Wir von DeSelfie bedanken uns ganz herzlich bei den vielen guten Inspirationen von Bernhard Moritz, www.paarberatung-tirol.at – der Cineast unter den Systemischen Therapeuten. Vielen herzlichen Dank für die wunderbaren Inhalte und Impulse aus dem Seminar „Systemische Filmanalyse“.
Im angloamerikanischen Bereich hat Filmanalyse für Therapie und Coaching einen festen Platz. Wer sich für Cinema Therapy interessiert, findet hier eine wunderbare Schatzkiste an Filmen.
DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.