Vorbildcharakter: ein unkonventioneller Denker

Ernst von Glasersfeld by univie.ac.at

Ernst von Glasersfeld. Danke an univie.ac.at

An dieser Stelle würdigen wir bereits verstorbene Persönlichkeiten. Ihnen haben wir Erkenntnisse zu verdanken, die uns helfen können, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Ernst von Glasersfeld (1917-2010), Vertreter des Radikalen Konstruktivismus, starb im November 2010 im Alter von 93 Jahren. Er war ein unkonventioneller Denker. In diesem Porträt lesen oder hören Sie zehn Punkte, warum es sich in unserer schnelllebigen, komplexen und unsicheren Welt lohnt, sich mit Leben und Ideen des Philosophen zu beschäftigen. Anstoß zur Selbstreflexion.

Zusätzlich kann der Podcast hier aufgerufen werden, falls das Autoplay nicht funktioniert.

Man braucht nur ein paar Kapitel seiner autobiografischen Fragmente „Unverbindliche Erinnerungen“ zu lesen. Alleine, wie Ernst von Glasersfeld seine Ferien mit Frau und zweijähriger Tochter spartanisch im Zelt in Malice am Gardasee verbracht haben musste, lässt den Menschen hinter dem Intellektuellen erahnen. Als er einen Bauern nach Unterschlupf unter einem Olivenhain bat, konnte dieser es kaum fassen, dass man „so hausen konnte“.  Als irischer Immigrant zog Glasersfed es vor, seinen Urlaub in Italien einfach zu verbringen. So wie wir heute wahrscheinlich „Entschleunigung“ oder „Zufriedenheit“ suchen würden. Ausgestattet mit einer Schreibmaschine, setzte er sich ich an den See –  und schrieb. Erst Übersetzungen für Touristenbüros, später Kultur-Rezensionen für die intellektuelle Wochenzeitung „Standpunkt“.

“Objektive Erkenntnis” gibt es nicht

Wenn es nach Erst von Glasersfelds Grunderkenntnis ging, gibt es so etwas wie „objektive Erkenntnis“ nicht. Unsere Wahrnehmungen liefern nie ein Abbild der Realität – unser Gehirn konstruiert sich stattdessen viel mehr, was es für „wahr“ hält. Alles liegt demnach im Auge des Betrachters.

Probleme des Wissens und Erkennens betrachtete Ernst von Glasersfeld anders als gewohnt: Er ging davon aus, dass jegliches Wissen nur in den Köpfen der Menschen existiert und das denkende Subjekt sein Wissen nur auf Grundlage eigener Erfahrungen konstruieren kann. Für diese Ideen stand er ein lebenlang ein und beeinflusste damit unterschiedlichste Disziplinen von der Kognitions- bis zu Kommunikationswissenschaft. Er blieb ein Leben lang ein Suchender.

Warum es sich lohnt, ein Suchender wie Ernst von Glasersfeld zu sein:

1. Zuhause in allen Welten

Ernst von Glasersfeld wurde 1917 in München geboren. Erst besaß er einen tschechischen Pass, später einen irischen, dann den amerikanischen. Aufgewachsen in Meran. Nach der Internatszeit in der Schweiz und Aufenthalten in Österreich, Frankreich und Australien, lebte Ernst von Glasersfeld ab 1939 in Irland. In den 1960er Jahren wanderte er schließlich in die USA aus wo er auch starb.

> Eine seiner großen Kompetenzen war es, über Staatsgrenzen und sprachliche Barrieren hinweg ein aufgeschlossener Suchender zu sein. Wie wir heute aus aktuellen Studien wissen, begünstigen Auslandsaufenthalte die Selbsterkenntnis

2. Vertrauen

Als Elfjähriger kam Glasersfeld 1928 ins Internat nach Neubeuren. Die harschen Reglements dort und vor allem die Ungerechtigkeiten eines Lehrers, der bei der Schlacht von Verdun traumatisiert wurde, hatten den behüteten Glasersfeld schwer belastet. So sehr, dass er seine Eltern darum bat, ihn wieder aus dem Internat zu nehmen. Sie vertrauten den Eindrücken ihres Sohnes und wenig später kam er auf ein anderes Internat in der Schweiz, in der „man sich in allen Dingen streng an Regeln halten musste, doch die allgemeine Atmosphäre mehr wie in einem Hotel als in einem Gefängnis war“, schrieb er.

> Seine liebenden, vertrauenden und fordernden Eltern legten den Grundstein für das Selbstvertrauen Ernst von Glasersfelds.

3. Unkonventionelles Denken

Als überdurchschnittlich guter Schüler hatte Glasersfeld die mündliche Empfehlung eines Professors für die damals schon berühmte ETH in Zürich. Doch jener Professor wollte sich wenig später an sein Wort nicht erinnern und eine Aufnahme dort klappte nicht. Also begann er an der Universität Zürich Mathematik zu studieren. Das war 1936. Ein Jahr später wechselte er nach Wien, der Vater  konnte das teure Studium in der Schweiz nicht weiter finanzieren. Doch als sich dort der Nationalsozialismus ausbreitete, brach Glasersfeld das Studium ab.

> Ernst von Glasersfeld  machten seinen Weg, auch wenn es dafür im ersten Schritt keine offiziellen akademischen Papiere und Titel gab. Er glaubte an sich und unkonventionelle Wege.  

4. Hohe Widerstandsfähigkeit

Als der akademische Weg zu scheitern drohte, verzweifelte Glasersfeld nicht daran. Er besann sich auf andere Fähigkeiten. Dank der frühen Bergtouren mit seiner Mutter war er ein hervorragender Skifahrer und nutzte eine ganz andere Gelegenheit, die sich ihm anbot: eine Skilehrertätigkeit in Australien.

> Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und einen Plan B haben – das steigert die eigene Widerstandsfähigkeit. 

5. Flexibilität

Vertrauen und einen Plan B haben – keine schlechte Idee. Danke an pexels.com

Von Glasersfelds australische Frau Isabel, die in Paris Malerei studiert hatte, folgte ihm nach Irland. Dort kauften sich die beiden eine Farm. Von Glasersfeld melkte Kühe und bewirtschaftete das Land zusammen mit einem befreundeten Paar. Sie hatten zwei Pferde, einen Karren und einen Pflug – und keinen elektrischen Strom. Wenn es auf der Farm nichts zu tun gab, fuhr er nach Dublin in die Bibliothek. Dort  beschäftigte sich Glasersfeld mit dem italienischen Philosophen Giambattista Vico, der für eine zirkuläre Geschichtstheorie warb, außerdem mit George Berkeley und Jean Piaget.

> Von Glasersfeld nahm die Situation, wie sie war.  Vormittags harte Arbeit im Stall, nachmittags Besuche in der Bibliothek. 

6. Netzwerken

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog Ernst von Glasersfeld mit Ehefrau und kleiner Tochter an den Gardasee. Dort machte er Bekanntschaft mit Silvio Ceccato, der später das Zentrum für Kybernetik an der Mailänder Universität gründete. Er schloss sich dem Denkerkreis um Ceccato an: „Die jahrelange Mitgliedschaft in Ceccatos Gruppe war unvergleichlich mehr als ein Ersatz für das, was mir eine akademische Erziehung hätte geben können“. Ab 1950 schrieb er als Kulturredakteur über Orson Welles, Picasso und Federico Fellini.

> Ein gutes Netzwerk half Erst von Glasersfeld, überraschende Bekanntschaften zu knüpfen und diese für Austausch und Weiterentwicklung zu nutzen

7. Umgang mit Schicksalsschlägen

Mehrere Schicksalsschläge musste von Glasersfeld überwinden: zunächst 1955 den Tod seines Vaters, dann den plötzlichen Tod seiner Frau Isabel 1969. Und später den Selbstmord seiner Tochter Sandra, Weihnachten 1991. Seine Überlegungen, ob seine sehr enge Beziehung mit seiner Frau Isabel damit zusammenhängen könnte, rissen bis zu seinem Tod nicht ab. Er mutmaßte, ob sich seine Tochter ausgegrenzt gefühlt haben muss. Dennoch verzweifelte er nicht daran. Bis kurz vor seinem Tod hielt er Vorträge.

> Der schmerzliche Verlust geliebter Menschen ließ von Glasersfeld reifen.

8. Interdisziplinäres Denken

Ab 1959 arbeitete von Glasersfeld als Sprachwissenschaftler für das Kybernetische Zentrum in Mailand. In den 1960er Jahren wurde er nach Amerika berufen und begann 1969 in Athens an der Psychologischen Fakultät Vorträge zu halten. Später arbeitete er in Georgia in den Bereichen Computer-Linguistik und Experimentalpsychologie. Seit 1972 beschäftige sich von Glasersfeld mit den Theorien von Jean Piaget. Dessen wichtigste Erkenntnis: Der Mensch kann auf neue Situationen nicht anders reagieren, als alte Verhaltensweisen und Erfahrungen miteinfließen zu lassen.

> Über den Tellerrand hinwegsehen – dies brachte von Glasersfeld auf innovative Gedanken.

9. Motivation

Selbst seine Krebserkrankung hielt von Glasersfeld nicht davon ab, an seine Ideen zu glauben. Mit engen Vertrauten sprach er nur selten über den Krebs, denn er war der Überzeugung, dass man Phänomenen wie diesen nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken darf. Viel wichtiger sei es, das betonte er auch in vielen Artikeln, seine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, wohin man wolle. Er brachte dafür auch gerne Beispiel. So erinnere ich mich an einen Aufsatz, in dem er einen Vorfall von verschütteten Bergleuten schilderte. Die Kurzfassung: Nach einer Lawinen wurden vier Leute nach 36 Stunden geborgen. Alle konnten gerettet werden, die einen zwei mit schweren Verbrennungen, die anderen weitgehend heil. Der Unterschied: Diejenigen ohne Verbrennungen hatten autogenes Training gelernt –  und als Überlebensstrategie eingesetzt. Sie waren mental stärker.

> Der Glaube versetzt Berge? Wenn es nach von Glasersfeld geht, kann mentales Training sogar Leben retten. 

10. Die eigene Haltung

Enge Vertraute beschreiben Ernst von Glasersfeld so: höflich, gnädig, vornehm, bescheiden, selbstbewusst, anständig, moralisch und ehrlich. Gut erzogen. Andere behandelte er auf gleiche Art und Weise. Ob Kinder, Studierende, Kollegen oder Gleichgesinnte – er war immer höflich, ehrlich, geduldig, freundlich, klar.

> Wertschätzendes Verhalten sich selbst und anderen gegenüber – ein Schlüssel für ein gutes, befriedigendes Miteinander. 

Das ABC des guten Tennis

In einem besonders beeindruckenden Interview, das Ernst von Glasersfeld einst geführt hatte, ging es darum, wie Tennisspieler vom konstruktivistischen Denken profitieren können.

Es bietet sich an, diese wichtigen Selbsterkenntnisse auf das eigene Leben hin zu überprüfen:

1. Fokussiere Deine Aufmerksamkeit in die Richtung, in die es gehen soll.

2. Erlaube Dir keine Fokussierung auf das, was Du nicht willst.

3. „Man braucht sieben Jahre, um ein Golfspieler zu werden. Länger braucht man, um Konstruktivist zu werden.“

4. Tennisspieler, die ihre Aufschlagtechnik verändern wollen, tun sich schwer, weil ihnen nicht bewusst ist, WIE sie bisher aufgeschlagen haben. Sie haben es sich angewöhnt, aber es ist ihnen nicht bewusst, was sie ändern müssen. So geht es uns in vielen Dingen. Wir tun sie, weil wir sie gewöhnt sind. Erst wenn sie uns bewusster werden, können wir sie ändern.

5. Maria Montessori hatte einst festgestellt, was wichtig ist, um in Kindern Stärken zu wecken –  „Hilf mir, es selbst zu tun“. Das ist für Führungskräfte und deren Mitarbeiter nichts anderes.

Sonst noch interessant?

Sie finden Persönlichkeiten wie Ernst von Glasersfeld spannend? Dann lesen Sie doch auch unser Porträt über einen, der die Wege von Glasersfeld kreuzte: Im Porträt über Heinz von Foerster erfahren Sie, warum jeder Mitarbeiter sich wie ein Unternehmer fühlen dürfen sollte.

Und hier gibt es ein Porträt über den “Papst der Lösungsorientierung”: Steve De Shazer.

Eine seiner letzten Reden hielt Ernst von Glasersfeld, bereits von Krankheit gezeichnet, im August 2010 und ist hier zu hören.

Quellen zu diesem Artikel: 

Ernst von Glasersfeld: Unverbindliche Erinnerungen. Skizzen aus einem fernen Leben. Folio-Verlag, Wien / Bozen 2008

Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. In: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Band 1326. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997

Interview mit Ernst von Glasersfeld, 08.12.2000, anläßlich seines Vortrages an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. In: R. Voss (Ed.) Unterricht aus konstruktivistischer Sicht (Instruction 253 from a constructivist perspective), 26–32. Kriftel: Hermann Luchterhand, 2002.

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