Steve de Shazer

Finden und Erfinden von Lösungen: Steve de Shazer (Porträt BFTC)

 

Steve de Shazer (1940-2005), der Begründer der lösungsorientierten Kurzzeittherapie, im Porträt.

An dieser Stelle würdigen wir von DeSelfie die Arbeit bereits verstorbener Persönlichkeiten. Ihnen haben wir Erkenntnisse zu verdanken, die uns helfen können, wenn wir nicht mehr weiter wissen.

 

Die Skalenfrage geht auf Steve de Shazer zurück

Mitten im popkulturellen Kontext tauchte sie wieder auf. Die Skalenfrage. So selbstverständlich, dass niemand auf die Idee gekommen wäre nachzufragen, auf wen diese eigentlich zurückgeht. Als Bo Burnham, großartiger US-Stand-Up-Comedian, am Ende seiner Show fragte: „Na, wie glücklich seid ihr jetzt, liebe Zuschauer, auf einer Skala von 0 bis 10?“
(auf Netflix ansehen hier oder hier auf YouTube den Trailer), da dachte natürlich kaum jemand an Steve de Shazer. Dabei war er es, der die Arbeit mit Emotionen und Skalen etabliert hatte, er selbst nannte die Technik „Wunderskala“. Heute ist dies Grundwissen in jeder Coaching-Ausbildung.

Der US-Therapeut arbeitete oftmals ganze Sitzungen lang immer wieder mit feinsten Nuancen dieser Frage, um Verbesserungen des Zustands seiner Klienten greifbarer zu machen. Und dies war nur ein Element seiner Arbeit, die bis heute Einfluss auf den Beratungs- und Therapiesektor hat.

Die Quintessenz? Zuhören.

Als Steve de Shazer in einem Gespräch mit John Weakland nach der „Quintessenz seiner Arbeit“ befragt wurde, antwortete er schlicht, dass es sowieso nur auf eine einzige Sache bei Beratungen und Therapien ankomme: Darauf, dass der Berater gut zuhöre und seine Sprache einfach halte. Ansonsten sei jede Sitzung, die er mit Klienten abhalte, einzigartig. Ja, Muster ließen sich wohl erkennen, aber nur selten könne man Erkenntnisse oder gar Theorien eins zu eins auf den Verlauf und das „Ergebnis“ der Sitzungen übertragen.

Therapie? 5 bis 10 Sitzungen!

Steve de Shazer war einer der führenden lösungsorientierten Berater und Therapeuten, der sich früh mit der Abkehr vom problembehafteten Gespräch beschäftigte. Und damit, dass Therapien keine Endlosprozesse sein müssen, sondern Kurzzeittherapien, also fünf bis zehn Sitzungen, häufig ausreichend für den notwendigen Umschwung sein können. Die Hinwendung zur Gegenwart und zur Zukunft waren ihm immer wesentlicher als die Vergangenheitsorientierung.

Die wunderbare Wunderfrage

Von ihm und seiner Ehefrau und Kollegin Insoo Kim Berg stammen Ideen wie die der „Wunderfrage“, die Arbeit mit kleinsten positiven Unterschieden oder eben die Skalenfragen. Heute profitieren davon Business-Coaches ebenso wie das Gesundheitssystem im allgemeinen, Sozialarbeit und Erziehung. Hin und wieder begegnet man auch Lehrern mit systemisch-lösungsorientierter Weiterbildung. Oder Menschen aus der Personalabteilung. Verkehrt ist das in keinem Fall.

Wer war dieser Steve de Shazer?

Beide Pioniere der systemischen Arbeit: Steve De Shazer und Insoo Kim Berg

Bevor de Shazer am 11. September 2005 im Alter von 65 Jahren gestorben war, gingen viele seiner Anhänger davon aus, dass er noch lange Zeit als Seminarleiter und Lehrtherapeut demonstrieren würde, was das Geheimnis seines Ansatzes war. Mir selbst begegnete er tatsächlich erst in Buchform, als ich meine Weiterbildung zur Systemischen Familientherapeutin 2006 begann. Dabei würden seine Werke durchaus auch gut in die kommunikationswissenschaftlichen Abteilungen der Universitäten passen. Eine gute Ergänzung beispielsweise zur Arbeit von Paul Watzlawick.

Interdisziplinarität war ihm wichtig

De Shazer selbst war jedenfalls der Interdisziplinarität aufgeschlossen, er war umtriebig, viel unterwegs, bereiste mit seinen Seminaren und Workshops Europa, Asien und Südamerika.  Geboren 1940 in Milwaukee, Wisconsin, wuchs er als Sohn eines Elektrotechnikers und einer Opernsängerin auf und wandte sich früh der Musik zu. Er spielte mehrere Instrumente und als Saxophonist in Jazzbands. Als Master of Science in Social Work der Universität von Wisconsin studierte er schließlich am Mental Research Institute in Palo Alto Kurztherapie bei John Weakland. 1978 gründete de Shazer schließlich zusammen mit seiner Frau Insoo Kim Berg das Brief Therapy Family Center, BFTC in Milwaukee. 2007, nach dem Tod von Insoo im Jahr 2006, wurde es wieder geschlossen, auf der Internetseite http://www.sfbta.org kann man heute noch praktische Tools herunterladen.

Überleben durch Perspektivenwechsel

In mancherlei Hinsicht war Steve de Shazers Arbeitsweise radikal. In seiner Sprache war er absolut reduziert, einfach und klar. Er setzte auf die Dekonstruktion der Sichtweisen seiner Klienten. Beispielsweise beschäftigte er sich mit Krebspatienten, die laut ärztlicher Diagnose bereits seit mehreren Jahren hätten tot sein sollen. Und fand heraus: Was ihnen allen gemeinsam war, ist die Tatsache, dass sie den Krebs nicht ins Zentrum ihres Lebens gerückt hatten. Sie machten ihn nicht zum größten Thema ihres Lebens. Sie verfolgten weiterhin ihre Ziele, gingen arbeiten, kümmerten sich um sich selbst – aber weniger um den Krebs.

Das Problem ist Teil des Systems

Eines der Grundprinzipien des lösungsorientierten Arbeitens lautet, dass nicht die Menschen an sich ein Problem sind, sondern das Problem Teil des Systems ist. Was heißt das im Umkehrschluss für ein ADS-Kind, das in der Familie und in der Schule wie ein ADS-Kind behandelt wird, “so wie man ADS-Kinder eben behandelt”? Bei dem sich Gespräche ständig um das Problem drehen? Es verstärkt das Problem, oder wie de Shazer es umschrieb: „Problem talks creates problems, solution talk creates solutions.“ Unsere Gesundheitskarte heißt mittlerweile zwar so, aber welchen Platz kann sie in einer symptom- und diagnoseorientierten Krankheitswelt einnehmen?

Wahrnehmung ist eine Gabe

Den Klienten ernst nehmen – und nicht zwischen den Zeilen zu lesen, sondern zu lernen, ganz genau wahrzunehmen, zu beobachten, das schlug auch de Shazer vor. Seine Ideen waren stets einfach und sind bis heute bedeutsam: Fokussiere auf die Lösungsmöglichkeiten und Ressourcen der Menschen, anstatt sie im Problem verhaften zu lassen. Und das Motto, das bei allen Interventionen vorherrschte, hieß: “Keep it simple.” Damit hat er die traditionelle psychotherapeutische Praxis radikal verändert und auch verstört.

Schritt für Schritt zum Geschafft

Der Therapeut war in seinen Augen nicht derjenige, der die Probleme der Klienten durchkaut und auch verstehen sollte, sondern der Klient sollte verstehen, was er am Problem ändern wollte und warum. Es ging immer um das „was stattdessen?“, um Lösungen zum Problem. Schritt für Schritt ließ er seine Klienten erzählen, wie sie es schon einmal geschafft hatten, das Problem zu verringern, ließ sich jede kleinste Ausnahme schildern, die Fortschritte ebenso und damit trat vor dem Problemfilm ein Lösungsfilm. All das tat er mit viel Respekt und Demut.

Meilensteine zum Vertiefen

Fünf seiner grundlegenden Bücher gelten heute als Meilensteine der Kurztherapie: „Patterns of Brief Therapy“, „Keys to Solution in Brief Therapy“, „Clues: Investigating Solutions in Brief Therapy“, „Putting Difference to Work” und „Words Were Originally Magic“. Sämtliche Bücher wurden ins Deutsche übersetzt, insgesamt sind seine Arbeiten und unzähligen Artikel in 14 Sprachen übersetzt. Sein letztes Buch „More Than Miracles: The State of The Art of Solution Focused Therapy“ wurde posthum veröffentlicht.

Philosophischer Sachverstand und Humor

Im deutschsprachigen Raum hat man Steve de Shazer etwa seit 1985 wahrgenommen, 1993 gründete er mit europäischen Kollegen die European Brief Therapy Association, EBTA, und veranstaltete internationale Konferenzen. In ihrem Nachruf schreiben Manfred Vogt, Wolfgang Eberling und Heinrich Dreesen vom Team Norddeutsches Institut für Kurzzeittherapie: „Steve de Shazer beeindruckte uns alle immer wieder mit seiner unerschütterlichen Konsequenz, seinem gewitzten Humor und seinem philosophischen Sachverstand.“

Der Wunsch nach Sicherheit

Die Quintessenz der lösungsorientierten Haltung? Ausnahmsweise ging John Weakland im oben erwähntem Gespräch noch einen Schritt weiter als sein Kollege de Shazer. Mit der Quintessenz der Beratung verhalte es sich wie mit der Quintessenz des Lebens an sich: „Mit der Ungewissheit und Unvollständigkeit leben zu lernen – darum geht’s doch.“ De Shazer bejahte.

Sicherheit und Instabilität, ein gutes Paar

Der Wunsch nach Sicherheit am Arbeitsplatz, der Wunsch nach Sicherheit in Beziehungen, die Sehnsucht nach Sicherheit in Sachen Freundschaften oder Gesundheit in Zeiten von ständigem Wandel und politisch-gesellschaftlicher Instabilität ist mehr als verständlich und immer wieder Thema in Coaching-Gesprächen. Was helfe, meinte Weakland, seien allerdings keine 10-Punkte-Trainings-Programme, sondern Selbstreflexion. Da wären wir also wieder.

Was ist schon “wahr” oder “unwahr”?

Steve de Shazer jedenfalls hätte sich womöglich darüber amüsiert, wie Bo Burnham sein eigenes Ich ins Zentrum seiner Kunst stellt, es kodiert und dekodiert, es dekonstruiert und wieder zusammensetzt, und damit sein Publikum verunsichert, berührt und stets im unklaren darüber lässt, was „wahr“ und was „unwahr“ ist. Fehlt nur noch, dass Burnham am Anfang seiner Shows die Wunderfrage stellt. „Na, liebes Publikum, angenommen der Abend heute hätte euch gefallen, woran würdet ihr das merken? Was wäre dann anders?

Die drei besten Fragen

Steve de Shazer hat einige Fragetypen populär gemacht, die uns helfen können, unsere Ziele zu fokussieren:

  1. Die Wunderfrage
    Angenommen über Nacht käme eine Fee. Ich wache morgens auf und mein Problem ist gelöst. Was wäre dann an mir selbst anders?
  2. Die Skalierungsfrage
    Auf einer Skala von 0 bis 10, bezogen auf Motivation, Zuversicht und Hoffnung… wo stehe ich  da gerade…und wo möchte ich hin?
    Wie bin ich überhaupt hierher gekommen, wo ich jetzt bin?
  3. Die Frage nach Ausnahmen
    Wann genau war mein Problem weniger präsent?
    Wie habe ich das damals gemacht, was war damals anders?

Das beste Buch von Steve de Shazer

De Shazer, Steve: Der Dreh: Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Carl-Auer Verlag, 2015Dieses Buch zeigt einen praktisch orientierten Leitfaden lösungsorientierter Beratung und Therapie auf, vor allem interessant sind die kompletten Sitzungsaufzeichnungen. Gegenstände des lösungsorientierten Gesprächs sind dabei vor allem: Ziele der Klientin sowie kleinste Verbesserungen und Ausnahmen vom Problem. Außerdem stellt de Shazer eine Art Matrix auf, die die strategische Quintessenz lösungsorientierten Vorgehens im therapeutischen Gespräch verdichtet darstellt.

Das beste Buch über Steve de Shazer

Vogt, Manfred, et.al. (Hrsg): Begegnungen mit Steve de Shazer und Insoo KimBerg. Verlag Modernes Lernen, 2012. Anhand dieser vielschichtigen Erinnerungen lässt sich ablesen, wie revolutionär der Einfluss der lösungsfokussierten Kurzzeittherapie auf die damalige Zeit gewesen sein mag – und bis heute noch ist. Begriffe wie „Selbstwirksamkeit“, „Zielorientierung“, „Ressourcenorientierung“ und „Lösungsfokussierung“ durchbrachen den herkömmlichen Begriff von Krankheit und Opferhaltung. Hier schreiben über 30 Kollegen aus allerwelt über die Begegnungen mit de Shazer und Kim Berg. Der Leser erlebt, wie die beiden gearbeitet haben und welche Haltung sie geprägt hat.

Das beste literarische Stück zu Steve de Shazer

Glattauer, Daniel: Die Wunderübung. Wien: Deuticke, 2014. Nach seinem E-Mail-Roman „Gut Gegen Nordwind“ (2006) hat der Wiener Autor aus eigener Erfahrung heraus – er absolvierte eine Ausbildung zum Lebens- und Sozialberater und bezeichnete sich in einem Interview als „Fremdmenschenmöger“  – ein Theaterstück geschrieben, das Steve de Shazers Haltung und Methode auf wunderbare Weise in ein Paar-Drama-Stück mit Therapeut verwandelt. Eine amüsante, wenn auch für Fachleute vorhersehbare Pflichtlektüre für jeden, der in eine paartherapeutische Ausbildung geht. Und: Gute Empfehlung für strittige Paare.

Wer Lust auf mehr interessante Persönlichkeiten hat, die sich mit Perspektivwechsel und hilfreichem Denken beschäftigen, der kann hier zum Beispiel ein Porträt über Heinz von Foerster lesen. Er war der Überzeugung, dass jeder Mitarbeiter wie ein Manager behandelt werden sollte.

DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.