Eine persönliche Reflexion: Wenn sich Wünsche und Meinungen verändern…

Johanna Jacobi ist Theaterkünstlerin und Wortschmiedin aus München und London. Durch eine Kindheit zwischen Büchern, Probesälen und philosophischen Diskussionen hat sie sich Heimat im ständigen Übergang geschaffen. In ihrer Reflexion über die stetige Veränderung von Wünschen und Meinungen versucht sie ins Reine zu kommen mit der eigenen Neuerfindung, einer polarisierten Kultur, und den Wünschen nach Sicherheit und Authentizität.

Unter den ersten Büchern, die ich auf Englisch las, waren Jane Austens Romane – denn ich kannte und mochte manche der Filmfassungen, bewunderte Austen als literarisch-feministisches Vorbild, und  die Penguin Classics kosteten wenig. Vor kurzem kam mir Anne Elliott aus Überzeugung in den Sinn, die lange unter ihren Entscheidungen zu leiden hat, nachdem sie sich überzeugen lässt, ihre Jugendliebe Wentworth zurückzuweisen, weil er schlechte Chancen auf finanzielle Absicherung zu haben scheint. Nach langen einsamen Jahren trifft sie Wentworth wieder, inzwischen professionell aufgestiegen und gut betucht – aber wähnt ihn außer ihrer Reichweite.

Die Kraft der Überzeugung

In vielen Verfilmungen liegt der Fokus auf Annes Reue und ihrer (berechtigten) Sorge, dass Wentworth ihre Entscheidung als Betrug gesehen, und ihr nicht vergeben hat. Aus dem Buch blieb mir vor allem in Erinnerung, wie Anne dafür verurteilt wird, dass sie vermeintlich untreu und von unverlässlichem Charakter gewesen sei – hier die Doppelbedeutung des Titels: aus welchen Gründen „darf“ man sich überzeugen lassen, die eigene Überzeugung aufgeben? Und bedeutet das wirklich Charakterschwäche?

Indem sie sich nicht in eine finanziell prekäre Situation begibt, trifft die achtzehnjährige Anne eine verantwortungsvolle Entscheidung für ihre eigene Zukunft, deren Richtigkeit im Nachhinein einzig sie beurteilen kann. Wentworth erkennt lange die Möglichkeit gar nicht an, dass sie einen starken Charakter haben könnte und trotzdem überzeugt wurde.  Beide haben einiges zu lernen, bevor sie wieder zueinander finden, und geben zu: Ihre Beziehung hat viel gewonnen durch die jeweilig errungene Reife, und in wahrem Austen-Stil auch durch die materielle Absicherung. (Austen, 2003)

Mit all unseren Meinungsänderungen und vergangenen Entscheidungen stehen wir doch immer wieder an einem neuem Punkt, und haben die Wahl: Aus unseren vorausgegangenen Entscheidungen zu lernen, oder uns davor zu weigern, aus Angst oder Scham (oder Erschöpfung).

Aber wieso wenden wir eigentlich so unrealistische Maßstäbe an, wenn wir oder andere unsere Meinung ändern?

Warum ist uns Weiterentwicklung oft so unangenehm?

Der Wunsch nach Stabilität

Zu jedem Zeitpunkt können wir nur wissen, was wir wissen, verstehen, was wir verstehen, und entwickeln uns auch stetig weiter in Richtung neues Wissens und neuer Verständnisse. Aber statt das zu akzeptieren, verurteilen wir nicht nur andere für Veränderung, die wir nicht nachvollziehen können oder die uns nicht in den Kram passt – idealisieren wir vielleicht auch oft Starrsinn als „klare Kante“, als „starken Standpunkt“?

Vielleicht, weil wir uns verlässliche und konstante Führungspersonen wünschen? Weil wir es lieber hätten, wenn globale Geschehnisse voraussehbarer und stabiler wären? Aber es geht nicht nur um politische Standpunkte.

Zu Veränderung stehen

Wenn ich selbst meine Meinung änderte oder wenn meine Wünsche sich weiterentwickelten, habe ich mich früher oft beurteilt oder geschämt: Vermeintlich wusste ich doch, was ich wollte und glaubte – und würde alles dafür geben mein Ziel gradlinig zu erreichen, was mir auf dem Weg auch begegnete. Stattdessen begann ich Flexibilität zu lernen: Nicht die Art, bei der man sich anpasst an jede Situation, oder spontan ganz einfache und geniale Lösungen für unvorhergesehene Probleme findet, bis das ursprünglich bestimmte Ziel erreicht ist (sowie ich es in Filmen gesehen hatte), sondern Flexibilität in Form von Offenheit und Präsenz; die Fähigkeit mal stehen zu bleiben und zu sehen, was im Moment möglich und sinnvoll ist; die Fähigkeit dem eigenen Rhythmus auch zuzuhören; die Kühnheit wirklich in mich hineinzuhören, was ich jetzt von der Sache halte, nicht vor fünf Jahren.

  • Was ist aber mit Wünschen und Meinungen, die wir uns zur Identität gemacht haben?
  • Und: Was, wenn wir auf neue Umstände und Informationen stoßen, die uns herausfordern, uns zu verändern?
  • Oder: Was, wenn wir feststellen, dass wir durch unser Unwissen oder Unverständnis zum Leid anderer beigetragen haben?

Wir verstehen, wenn wir verstehen, nicht früher, und nicht später: und wenn wir verstehen, bedeutet das Pflicht zur Verantwortung. Vielleicht ist oft der Schritt innere Veränderung zuzulassen nur im Stillen möglich, aber um Verbesserung herbeizuführen, muss darauf äußere Handlung folgen.

Klaffende Täler

Wir befinden uns in einer Zeit großer Meinungspolarität, und klaffende Täler teilen Nationen, Familien und Freundschaften. Wie vertreten wir unsere eigenen Werte und akzeptieren gleichzeitig Meinungsverschiedenheiten? Wie wird es möglich sein, wieder zueinander zu finden? Gewiss ist es verständlich – oder notwendig – wenn man bestimmten Beziehungen Grenzen setzt, falls nur eine Seite bereit ist, konstruktive Diskussionen zu führen. Menschen in privilegierten Körpern haben mehr Möglichkeit mit krassen Meinungsunterschieden umzugehen, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben.

Von mir würde hoffentlich nicht erwartet, dass ich mich mit einem betrunkenen Sexisten in Debatte begebe, und genau so wenig darf man erwarten, dass ein schwarzer Mensch einen rassistischen Polizisten herausfordern soll. Ich könnte mich zum Beispiel eher, ohne körperliche Bedrohung zu erfahren, für diese Person einsetzen.

Macht und Schwierigkeiten sozialer Medien

Ich glaube, wo es uns möglich ist, müssen wir ins Gespräch kommen. Wir verurteilen oft schneller, als wir vergeben können. Durchaus hat die große Macht von sozialen Medien in öffentlichen Diskussionen positive Macht, so zum Beispiel durch die #metoo Kampagne, welche zahlreiche mächtige Missbrauchstäter in die Verantwortung nahm, Missbrauchten Mut gab, laut zu werden, und die Verurteilung Harvey Weinsteins begünstigte (Filipovic, 2020). Regime-unabhängige Berichterstattung im Iran ist seit der Revolution auch mithilfe dieser Medien möglich (ARTEde, 2022).

Eine Kehrseite ist, dass die Hemmschwelle für Beschimpfung und Verurteilung in der digitalen Welt niedriger zu sein scheint, sodass es sozial akzeptabel wird, Menschen auch für Fehler ohne niederträchtige Intention vollkommen nieder zu machen, oder sie wegen Diskrepanz zwischen früheren und jetzigen Meinungen manchmal vorschnell als heuchlerisch zu beschreiben. Die Umgangsart kann für meinen Geschmack da bleiben, wo sie herkam, bei den Internettrolls – nicht weil ich nicht manchmal auch das Bedürfnis habe! Aber weil es uns, denke ich, nicht weiterhilft.

Heuchelei

Ich beschreibe auch oft öffentliche Persönlichkeiten und Politiker als heuchlerisch, das ist meine freie Meinung – die ich in Gesprächen nicht scheu bin, kundzutun. Ich finde es auch gerechtfertigt zu fragen, ob es den Nationalspielern der Deutschen Fußballmannschaft in Katar wirklich so wichtig war durch das Tragen der One Love-Binde Solidarität zu zeigen, wenn sie sich von der FIFA so schnell haben kleinmachen lassen, (Steiger, 2022) während die Iranische Mannschaft ein großes Risiko eingegangen ist mit ihrer Stille während der Nationalhymne (Klein, 2022). Gleichzeitig wäre es voreilig daraus zu schließen, dass es nur Werbung sein sollte, oder gar, dass alle Spieler einer Meinung waren.

Wenn es darum geht zu ermitteln, ob jemand ernsthaft oder strategisch nach außen die Meinung geändert hat dann bleibt uns oft nichts übrig, als gut informiert zu raten (aber ich glaube eine gute Basis dafür, ist zu recherchieren, wer finanziell profitiert…). Respektvolle, auch scharfe, Kritik versteht die Kritisierten als mündig und menschlich, spricht ihnen die Verantwortung und Fähigkeit zu, ihre Meinung weiterzuentwickeln. Von den Kritisierenden erfordert sie eine Großzügigkeit, die oft verständlicherweise schwierig aufzubringen ist, besonders wenn einem das Thema nahe tritt.

Respektlose Kritik zielt auf vollkommene Eliminierung ab, beschimpft, mutmaßt, entmenschlicht, und sagt wohl mindestens so viel über die Kritisierenden wie über die Kritisierten aus.

Angst vor Beziehungsverlust und Identitätsverslust

Als Schauspielschülerin wurde mir einmal gesagt, ich hätte zu viele Meinungen zu der Rolle, die ich spielte. Ich war vor die Stirn gestoßen: War das nicht Teil meiner Aufgabe? Überhaupt, noch ein Mann, der sagte, ich hätte zu viele Meinungen? Meine Anschauungen und Werte sind mir wichtig. Aber es ist eine Sache, als Person oder Künstlerin Meinungen zur Aussage des Stückes zu haben, und eine andere, die Person, die man verkörpern soll, zu verurteilen – im psychologisch-realistischen Theater ist es mein Job, auf der Seite meiner Figur zu stehen (auch ohne Veränderung meiner eigenen Werte), und vor allen Dingen: Nicht eine Meinung über sie, sondern ein Verständnis für sie zu entwickeln. Das erfordert immer einen Schritt von meinen Urteilen weg, in den Raum zwischen mir und der Figur, und das ist manchmal schwierig, aber immer interessant.

Veränderung und schwierige Diskussionen machen wohl den meisten von uns ein Stück weit Angst – unsere Meinungen und Wünsche kundzutun ist beängstigend genug, aber zuzugeben, dass sie sich geändert haben, dass wir Unrecht hatten, dass wir in eine neue Richtung streben möchten ist eine Aufgabe von Kontrolle über unser Selbstverständnis, über die Art wie wir unsere Identität zeigen, über unsere Beziehungen.

Oft fehlen uns in Streitgesprächen plötzlich die besten Argumente, wir „gewinnen“ nicht, obwohl wir uns sicher sind im Recht zu sein. Und wenn wir laut sagen, was wir verändern möchten, dann wird wohl auch erwartet, dass wir uns entsprechend verhalten, oder vielleicht werden wir ausgelacht. Im Alleingang die Richtung zu ändern und ins Ungewisse zu treten braucht viel Mut. Aber unsere Ängste zeigen uns nicht nur ein Problem, sondern vielleicht unseren besten Lösungsansatz für schwierige Gespräche.

Beziehungsaufbau als Priorität

Wir wissen, dass Kinder, die im ersten Lebensjahr nicht bedingungslose Liebe erfahren, Schwierigkeiten haben ihren Bezugspersonen zu vertrauen, und von ihnen zu lernen. (Golding, 2015). Die klinische Psychologin Kim S. Golding, die mit dem Britischen Gesundheitswesen in der Hilfe für traumatisierte Kinder arbeitet und 2020 für ihre Leistungen in diesem Bereich mit dem CBE-Titel anerkannt wurde, erläutert, dass besonders bei Kindern, die bedingungslose Liebe im frühen Leben nicht erfahren haben, das Prinzip „connection before correction“ (Golding, 2015) wichtig ist – Verbindung und Beziehung vor der Korrektur.

Ich will nicht vorschlagen, dass wir erwachsene Menschen „korrigieren“ oder uns selbst „korrigieren“ lassen. Doch wir alle möchten, dass wir in unserer sozialen Situation sicher sind, angenommen, und versorgt, bevor wir uns möglichem Konflikt oder Umbruch aussetzen.

Akzeptanz macht alle Parteien in einem Austausch lernfähig. Die Verbindung zu anderen Menschen sagt uns, dass wir die Kraft einer ganzen Gruppe haben, und offen sein können. Wen wir als Feind betrachten wird es merken und umso fester in der eigenen Perspektive verharren. Auch wir müssen bereit sein, unsere Meinung zu ändern. Dazu brauchen wir Mut zur Neugier.

Der britische Komiker John Cleese erzählt in seiner Autobiographie von einem Wendepunkt in seinem Leben. Aus Angst für dumm gehalten zu werden, hatte er, wann immer er etwas in einem Gespräch nicht verstand, einfach so getan, als wüsste er worum es ginge. Kann kompliziert werden, und viel lernen tut man auch nicht. Eines Tages war er in dieser Situation und sagte stattdessen impulsiv: „I don’t know about that. Will you tell me about it?“ (Cleese, 2014, 132). Dazu weiß ich nichts. Erzählst du mir davon? Und lernte, wie Menschen es lieben, ihren Standpunkt und ihr Wissen zu teilen. Connection. Interesse.

Die Kraft von Neugier und Interesse

„Inter-esse“ heißt wörtlich übersetzt „dazwischen sein.“ Interesse ist der Schritt, den wir ins Ungewisse nehmen – und mit dem wir einer anderen Person entgegenkommen können. Unser Interesse kreiert menschliche Verbindung, ein Gefühl von Sicherheit, wo vorher Angst war. Neugier und Interesse ermöglichen es uns sowohl selbst lernfähiger zu werden, als auch Kontexte zu schaffen, in denen sich Menschen, deren Meinungen unvereinbar scheinen, näher kommen können, in denen die Gräben zwischen uns Schritt für mutigen Schritt überbrückt werden können.

Und jedes Mal, dass wir sagen: „Oh, davon weiß ich nichts. Erzähl es mir. Erklär es mir“; jedes Mal, dass wir uns selbst nicht so einfach definieren lassen, nicht ganz so festhalten an unserer als der einzigen Perspektive, bauen wir diese Brücken ein Stück weiter.

Raum für Neugier

In ihrem Buch “The Atlas of the Heart” definiert die psychologische Wissenschaftlerin Brené Brown die Begriffe „curiosity“ und „interest“ und merkt an, dass unsere „kindliche“ Neugier uns im Erwachsenwerden verletzlich machen kann und wir sie oft aus dem Wunsch nach Sicherheit unterdrücken. Wir wählen Sicherheit anstatt Neugier, metaphorische „Panzer“ anstatt Verletzlichkeit, Wissen anstatt Lernen – und beengen damit nicht nur unser Potential für Kreativität, Lern- und Merkfähigkeit und Problembewältigung (Brown, 2022, 65, 66), sondern verschließen uns auch vielen zwischenmenschlichen Beziehungen.

Ich sehe also ein paar Voraussetzungen für den Mut zu Interesse: zum einen ein Gefühl von emotionaler Sicherheit – zu wissen, dass man neue Einsichten integrieren kann, und dass man soziale Unsicherheit regulieren und tolerieren kann; zum anderen, ein Verständnis, dass man nicht alles weiß, nicht alles wissen kann, und nicht alles wissen muss.

Lernbereitschaft und Respekt, nicht Perfektion, sind notwendig, um sich in den Zwischenraum zu begeben, der unseren Erfahrungs- und Wissensschatz erweitert und uns beziehungsfähig macht. Den Anspruch auf totales Wissen aufzugeben ermöglicht uns auch, den Anspruch auf komplette Wissenssysteme aufzugeben, und anstatt durch den Blickpunkt einer bestimmten Weltanschauung auf spezifische Argumente, Perspektiven, Wahrheiten und Fakten mit Präsenz und Wertschätzung einzugehen. Vielleicht erweitern wir dadurch unseren Erfahrungsschatz und erhalten ein tieferes Verständnis für die Reichweiten und Gründe einer bestimmten Auseinandersetzung.

Das Spektrum der Menschlichkeit

Unsere Offenheit ermöglicht es uns, in vermeintlichen Gegnern dieselben menschlichen Wünsche und Ängste zu erkennen, die wir selbst haben. Das muss unseren Standpunkt nicht unbedingt verändern, und wir können trotzdem von Menschen mit anderen Meinungen verlangen, dass sie Verantwortung übernehmen für Schaden oder Schmerz, den sie vielleicht verursacht haben. Gespräche mit solchen Leuten, die die Menschenrechte anderer mit Füßen treten möchten viele von uns vermeiden.

Wo soll schon da die Diskussion ansetzen? Meine theoretische Antwort, weil ich solche Gespräche noch nicht geführt habe, wäre: bei der gemeinsamen Menschlichkeit. Was hilft es uns, andere Menschen als „unmenschlich“ zu beschreiben? Das Spektrum von Menschlichkeit auch in unseren übelsten Ausdrucksformen muss anerkannt werden, um daran etwas zu ändern. Wie kann ein Mensch so etwas tun? Wie können wir verhindern, dass Menschen so etwas tun?

Bedingungsloses Willkommen

Aber zwischen unseren eigenen Standpunkten und schweren Menschenrechtsverletzungen liegt hoffentlich ein weites Feld von Perspektiven, denen oft auch verständliche Wünsche und Ängste zugrunde liegen. Ich fordere mich selbst auf, in diesem Bereich viel mehr Gespräche zu führen, die Schritt für Schritt die Schluchten zwischen uns überbrücken.

Die Fokusgruppen-Moderatorin und Sozialanthropologin Karen Faith gibt in ihrem TEDx Vortrag das Beispiel einer Frau, die sie im Rahmen einer Recherche genau kennen lernen sollte. Diese rauchte in Anwesenheit ihres Säuglings, fütterte ihm Pommes, und erklärte ihr Misstrauen gegenüber jeglichen Impfstoffen, auch zum Schutz gegen Polio.

„Ich verurteilte sie“, gibt Faith zu. Sie bemühte sich aber, der Frau zu gewähren, was sie „bedingungsloses Willkommen“ nennt: „nicht Toleranz, oder sogar Mitgefühl, sondern Willkommen“ – totale Akzeptanz. „Da sah ich eine Mutter, die ihr Baby fütterte, in einer Welt, der sie nicht vertraute. Ich sagte zu ihr, dass ich sehen konnte, wie wichtig es ihr war ihren Sohn zu beschützen, und ob sie das von ihren Eltern hatte. Dann hatten wir ein Gespräch (…) und ich lernte wie sie ihre Angst überwand, um eine Familie zu gründen. Und als ich sie so bedingungslos willkommen hieß, sah ich sie deutlicher, aber ich liebte sie auch auf sofort. Uns ist zu oft gesagt worden, dass Liebe schwierig ist. Das ist sie nicht. Liebe ist, was passiert, wenn wir aufhören, danach zu fragen, wer sie verdient.“ (Faith bei TEDx Talks, 2022)

Wie nehmen wir uns selbst in Verantwortung?

Am schwierigsten zu überdenken sind wohl diejenigen Meinungen und Annahmen, deren wir uns nicht bewusst sind. Die Māori Psychologin Dr Hinemoa Elder teilt in ihrem Buch Wawata – Mondträume – die Māori Namen, sowie Bedeutungen, Geschichten und Überlegungen für die Tage des Mondzyklus, welcher uns an die Kraft der Wiederkehr im unserem Leben erinnert. Tamatea-whakapau, ein bestimmter Tag des zunehmenden Mondes, ruft jeden Monat dazu auf, undurchdachte Annahmen zu überprüfen. Dr Elder nennt Annahmen halbgebackene Glaubenssätze, welche wir nutzen, um uns Zeit und Unannehmlichkeiten zu sparen, aber welche uns dazu bringen, uns selbst und andere zu verurteilen, oder uns an vermeintlichen sicheren aber einschränkenden Identitäten festzuhalten.

Der Mond hat einen Tag im Kalendar, damit wir uns mit unseren eigenen Vorurteilen und Annahmen auseinandersetzen (Elder, 2022, 82-89). Das mag uns daran erinnern, dass wir nicht alles an einem Tag lösen müssen, dass alles seine Zeit hat, und dass Veränderung auch Integration braucht – der Mondzyklus erinnert uns damit aber auch, dass die Notwendigkeit für Veränderung und Reflexion immer wiederkehrt.

Im Fluss sein mit Selbstreflexion

Ich stelle mir das mit der Veränderung von Meinungen und Wünschen so vor wie ein großes Flusssystem. Man kann versuchen sich eine Weile wo festzuhalten, aber es kostet Kraft. Letztendlich muss man sich entscheiden, wo es weitergeht, oder man wird von einer Strömung mitgerissen. Man kann versuchen, gegen die Strömung zu schwimmen, aber zurück auf Anfang kommt man nicht. So viele verschiedene Flüsse man auch schwimmen mag, man kann doch nie das ganze System erfassen, und wo all die anderen Flüsse herkommen. Was können über unsere metaphorische Flussreise lernen, indem wir unseren eigenen Fluss zu verstehen versuchen, woher er kommt und mit wem wir die Reise teilen, und indem wir an jeder Flussabzweigung die Menschen fragen: erzählst du mir von deiner Reise?

Selbstreflexion, über unsere Beziehung zur Welt, über unsere Meinungen und deren Quellen, über unsere Ziele; darüber, wie wir jetzt leben möchten; über die Gründe für unsere Ängste und wie unsere Körper sie speichern; Selbstreflexion darüber, wie unsere Entscheidungen mit den Menschen und Wesen zusammenhängen, mit denen wir den Planeten teilen: das gibt mehr mehr Toleranz für schwierige und starke Gespräche – stark, das heißt stark genug um Verwundbarkeiten und Unsicherheiten zuzulassen. Das gibt mir Mut, meine eigenen Entscheidungen in der Gegenwart zu treffen, mein eigenes Leben zu führen, und hoffentlich andere das ihre führen zu lassen; liebevoll, verantwortungsvoll, und mit wirksamen Grenzen, mit Offenheit und mit Resilienz in Beziehung zu treten. Ich sehe mich noch am Beginn dieses Weges, und ich hoffe, dass ich ihn mit vielen verschiedenen Menschen teilen darf.

Quellen

ARTEde (2022) Iran: „Solange die Frauen nicht frei sind, ist niemand frei!“ | ARTE Info Plus

. https://www.youtube.com/watch?v=fPWEuGHFOz4 [accessed 6 March 2023].

Austen, J. (2003) Persuasion. London: Penguin.

Cleese, J. (2014) So, Anyway. London: Penguin Random House.

Filipovic, J. (2020) The Weinstein verdict is a huge win for #MeToo – but what’s next?. Guardian, 25 February. Avalailable from https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/25/weinstein-verdict-metoo-movement-whats-next [accessed 6 March 2023].

Golding, K. (2015) Connection Before Correction: Supporting Parents to Meet the Challenges of Parenting Children who have been Traumatised within their Early Parenting Environments. Children Australia, 40(2), 152-159. doi:10.1017/cha.2015.9 [accessed 6 March 2023].

Johnson, K. A. (2022) Call of the Wild. New York: HarperCollins

Klein, T. (2022) Irans stiller Protest gegen das Mullah-Regime. Deutsche Welle, 21 November.  Available from https://www.dw.com/de/irans-stiller-protest-gegen-das-mullah-regime/a-63833403 [accessed 20 March 2022].

Steiger, D. (2022) Verbot von One Love-Binde: Hintergrund zum Streit mit der FIFA. Südwest presse, 23 November. Available from https://www.swp.de/sport/fussball-wm/one-love-binde-wm-2022-katar-bedeutung-welche-laender-fifa-neuer-67720697.html[accessed 6 March 2023].

TEDx Talks (2022) How to talk to the worst parts of yourself | Karen Faith | TEDxKC … avalailable from https://www.youtube.com/watch?v=gUV5DJb6KGs [accessed 6 March 2023]. Translation: Johanna Jacobi.

Danke an pexels für die wunderbaren Bilder.

Einen weiteren Artikel von Johanna Jacobi über das Gefühl von Heimat finden Sie hier.