In und nach Corona: Eine offene Lernhaltung ist notwendig

Wie sieht Unternehmenskultur von Morgen aus? by Lisa Fotios

Wie sieht Unternehmenskultur von Morgen aus? Danke an pexels.com (Lisa Fotios)

Dieses Interview hat DeSelfie-Gründerin Dr. Astrid Dobmeier mit zwei Masteranden der Organisationspsychologie geführt, die zum Thema Unternehmenskultur der Zukunft forschen. Und das noch vor der Corona-Ära. Also noch weit vor der Zeit, als Home Office für viele unter uns plötzlich daily business wurde. Als Teams von heute auf morgen remote geführt werden mussten. Unglaublich, wie schnell die Realität Szenarien der Zukunft einholen kann… – und was dann daraus entstehen kann. Der Artikel erschien zum ersten Mal Ende 2018. Nun veröffentlicht ihn DeSelfie aus aktuellem Anlass noch einmal neu.

In ihrer Recherche befassen sich die beiden Forscher mit den Themen Unternehmenskultur, Frauen in Führung, Motivation und Verdienst. Vielen Dank, dass DeSelfie das Interview in voller Länge veröffentlichen kann!

Zukunftsfähige Unternehmenskultur: Frauen reflektieren mit ihren Männern im Coaching

Sie begleiten seit vielen Jahren in Coachings Frauen deutscher Konzerne, die in Führung sind oder als zukünftige Management-Kandidatinnen ausgewählt wurden. Was sind deren Themen?
Astrid Dobmeier: In den Coachings erlebe ich hoch kompetente Reflexionsprozesse, die sich zwischen Privatleben und Arbeit bewegen. Es geht um Selbstwert und Kommunikation und wie die eigene Haltung mit der im Unternehmen zusammenpasst. Viele Frauen stellen sich die Frage, inwiefern sie sich in den männlich geprägten Strukturen für eine Management-Position engagieren möchten.

Wenn wir dann gemeinsam auf familiäre Hintergründe blicken, auf Glaubensmuster und Selbstzuschreibungen, dann kommen wir häufig zu einer ganz wichtigen Frage: Warum mache ich das eigentlich alles, was will ich wirklich – und unter welchen Bedingungen und zu welchem Preis. Ich lade die Partner der Frauen immer mit zu den Gesprächen ein, damit das große Ganze sichtbar werden kann.

Wenn die Partner der Frauen mit ins Coaching kommen, was besprechen Sie dann zum Thema Führung?
Astrid Dobmeier: Die Frauen beschäftigt zunächst einmal die Frage, wie sie als Managerin überhaupt ein Privatleben führen können, geschweige denn Kinder mit ihrem Partner haben, wenn beide Karriere machen wollen. Im Dialog wird häufig sichtbar, dass sich viele Männer noch gar keine so konkreten Gedanken darüber machen wie ihre Frauen.

Der Preis der Karriere im Konzern ist für viele junge Frauen zu hoch: kaum Privatleben, erschwerte Familienplanung, wenig Aussichten auf ein Leben in Balance, energieraubende Machtspiele, wenig Wertschätzung für das tägliche Tun. Häufig arbeiten sie mit männlichen Vorgesetzten zusammen, deren Frauen sich im Hintergrund um Kinder und Haushalt kümmern. Also ganz klassisch.

Eine schlechte Nacht wird einfach überschminkt

Man liest doch überall, dass die Strukturen deutscher Konzerne bereits sehr viel moderner geworden sind…
Astrid Dobmeier: Wie auch beim Thema Digitalisierung sind wir auch hier zwar im Umbruch, dennoch fehlen immer noch Rollenvorbilder – und die Selbstverständlichkeit, über die Schwierigkeiten im Alltag zu reden. Wenn der Säugling die ganze Nacht schreit und die jungen Eltern keinen Schlaf finden, dann ist das im Meeting am nächsten Morgen kein Thema.

Die Frauen überschminken es, Männer schweigen. Es ist ein Tabu, weil es Leistungsschwäche suggeriert. Wenn es keine offene Ablehnung gibt, dann hinter den Kulissen. Außerdem stellen sich Frauen häufig die Frage: Inwiefern muss ich mich dem männlichen Duktus anpassen? Im Zweifel entscheiden sich viele Frauen dann doch für Authentizität. Und stoßen damit in der Chef-Etage an Grenzen. Die „Me Too“-Debatte hat viele Frauen auch noch einmal in diese Richtung sensibilisiert.

Was müssten Frauen, Männer und Unternehmen tun, damit tatsächlich mehr Frauen in Führung kommen? Welche Unternehmenskultur braucht es?
Astrid Dobmeier: Erst einmal müssen sich Konzerne die Frage stellen, ob sie tatsächlich mehr Frauen wollen. Die gesetzliche Grundlage bietet ungemein viele Schlupflöcher, so dass es nur auf Aufsichtsratsebene um ein Müssen geht. Bei allen anderen 3.500 Unternehmen geht es um eine Wollen. Wenn die Entscheidung ist: Ja, wir wollen das, dann müssen sie das Thema zusammen mit ihren Mitarbeitern gestalten. Mit Frauen und Männern. Das ist ein Veränderungsprozess, der Jahre dauert, Engagement und Reflexion erfordert.

Denn Unternehmenskultur fängt bei mir selbst an. Dann müsste der Wunsch mit ernsthaften, unternehmenskulturellen Entwicklungen gekoppelt sein. Viel zu oft erlebe ich in Unternehmen Feigenblatt-Maßnahmen: Hier ein Frauenförderprogramm, dort ein Gender-Workshop  – und Führungskräfte, die zwar in Vorträgen zu „neuer Führung“ und „agilen Strukturen“ sitzen, selbst aber die dafür nötigen Grundwerte gar nicht leben. Und auch keine Zeit haben, sich damit auseinanderzusetzen. Und Vorstände, die sich selbst in ihren Zwängen sehen. Es gibt immer noch viel zu wenig Führungskräfte, die eine wirklich wertschätzende Haltung leben, die respektvoll kommunizieren und die Mitarbeiter in ihrer Entwicklung fördern. Das häufigste Missverständnis in der Weiterbildung von Mitarbeitern ist, dass Wertschätzung und Respekt geschult werden könnten.

Unternehmenskultur der Zukunft: Weniger Schulung, mehr Selbstreflexion

Unternehmenskultur der Zukunft by Lisa Fotios

Danke an pexels.com (Lisa Fotios)

Wenn Schulungen zum Thema Frauen in Führung in Konzernen nicht helfen, was braucht es denn stattdessen?
Astrid Dobmeier: Konzerne und mittelständische Unternehmen könnten sich viel Geld sparen, indem sie nicht nach dem Gießkannenprinzip moderne Ansätze wie Design Thinking oder agiles Arbeiten schulen. Das bringt nur sehr wenig, wenn die Grundhaltung des Teams, das so arbeiten soll, nicht stimmt. Was nutzt es denn, wenn die Mitarbeiter lustige Post-Its mit innovativen Ideen sammeln, der Chef aber gar nicht ernsthaft daran interessiert ist und aus machtpolitischen Gründen sowieso wieder alles wie gewohnt ausführt.

Zeit und Geld könnten sinnvoller eingesetzt werden. Wir müssen beim Thema Veränderungsarbeit an der Reflexion und der Haltung der Führung ansetzen. Was ist denn das für ein Vorgesetzter, der nur redet, aber nicht handelt. Wir brauchen Leader, die „Practice what you preach“ leben. Für eine moderne Unternehmenskultur ist es Voraussetzung, dass sich die Führungskräfte trauen, sich selbst und ihr Handeln zu hinterfragen. Wir brauchen eine offene Fehlerkultur und den Ansatz, dass Frauen und Männer immer voneinander lernen können.

Wie kann eine offene Lernhaltung und eine lernende Unternehmenskultur in Konzernen gefördert werden?
Astrid Dobmeier: Es gibt bereits sehr viele gute Ansätze, allerdings fehlt es meistens an einer gemeinsamen, starken Führungskoalition auf Vorstandsebene. Und an einer glaubwürdigen Kommunikation, die den Mehrwert der Anstrengungen für das Unternehmen an die Mitarbeiter kommuniziert. In Reflexionsrunden im Team und in Einzelgesprächen wird diese Kultur gefördert. Auch hier erlebe ich eine oft statische Einführung neuer Methoden. Die Personalentwicklung hat ein schickes neues Tool, aber nicht einmal sie selbst versteht, dass es wichtig ist, das Tool im Alltag zu leben.

Die Zeiten der sogenannten „Trainings“ ist aus meiner Sicht vorbei. Anstatt noch mehr theoretische Modelle zu lernen, sollten Führungskräfte endlich selbst ins Tun kommen, Gespräche üben, sich ernsthaft wertschätzendens Feedback geben – und Feedback nehmen lernen. In der Theorie wissen alle Bescheid, in der Praxis scheitert es an konsequentem Tun. Heute kann ich jede Theorie googlen, mir Seminare auf YouTube ansehen oder im TED-Talk dazulernen. Es geht um das Tun.

Emotionen ernst nehmen – das wäre ein guter Schritt

Das klingt nach richtig viel Veränderungsarbeit für ein Unternehmen und nach Engagement…
Astrid Dobmeier: Ja richtig – und das ist auch ein Grund, warum die Veränderungen so langsam voranschreiten. Das Thema Frauen in Führung ist nur ein Symptom für unsere Zeit. Dieses Thema ist einer von vielen möglichen Aufhängern, um an einem neuen Miteinander zu arbeiten. An Tugenden, die wir im Laufe der Zeit verlernt haben. Dabei sind diese gerade in Zukunft wichtig.

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Sehen wir uns Bewertungsportale wie kununu an – selbst schlechte Bewertungen führen häufig zu keinen Veränderungen. Der Druck von außen wird noch größer werden, Ungleichheiten werden transparent aufgedeckt werden, wir werden offener über gerechte Vergütung sprechen, werden Führungskräfte stärker beurteilen, es wird um flexibles Arbeiten gehen und das Management wird lernen müssen, Emotionen ernst zu nehmen.

 

Die Jungen flüchten reihenweise – oder schalten ab

Haben Führungskräfte denn überhaupt so viel Zeit für Gespräche, das sind doch alles nur Soft Skills, in Konzernen geht es um Zahlen…
Astrid Dobmeier: Was gestern Softskills waren, werden in Zukunft Hauptqualifikationen sein. Die notwendige Zeit werden sich Führungskräfte in Zukunft nehmen müssen. Grundschüler lernen heute schon in Lern- und Entwicklungsgesprächen, sich selbst mit einem Fragebogen einzuschätzen und mit dem Lehrer sprechen sie dann über ihre Ziele und was sie dafür tun wollen. Sechs- bis Zehnjährige! Wie wird das denn werden, wenn diese jungen Menschen in den Arbeitsmarkt kommen? Ich sehe das bereits an den selbstbewussten Bachelorabsolventen. Sie sind partizipativ erzogen worden und treffen auf machtstrukturierte Unternehmen.

Entweder suchen sie schnell das Weite oder sie verkümmern in ihren Potenzialen, weil sie, wenn sie von ihren Führungskräften nicht wahrgenommen werden, sich in „Dienst nach Vorschrift“ flüchten, so wie die anderen 70 Prozent aller Mitarbeiter – so ist die Situation laut Gallup-Studie. Wir wissen seit Jahren, wie wichtig Mitarbeitergespräche für die  Motivation sind. Ich erlebe zwar HR-Abteilungen, die sich hübsche Fragebögen dafür ausdenken. Ob die Gespräche dann aber geführt werden – und vor allem wie –  das wird nur selten begleitet. Dabei müssen Führungskräfte hier sehr individuell an die Hand genommen werden. Es ist nicht jeder Führungskraft gegeben, sich weg vom reinen Bewertungssystem hin zum wertschätzenden Feedback zu entwickeln. Zum Wahrnehmen des Gegenübers. Das muss gelernt und geübt werden. Tag für Tag.

HR im 21. Jahrhundert baut Beziehung auf

Was heißt das dann für die HR-Abteilungen der Zukunft?
Astrid Dobmeier: Es ist die Frage, inwiefern HR-Abteilungen bereit sind, sich endlich weg von der administrativen Personalverwaltung zu entwickeln. Viele HR-Fachleute wollen das, doch wenn sie für 300 Mitarbeiter zuständig sind, haben sie natürlich keine Chance, Beziehungen zu ihren Mitarbeitern aufzubauen. Dieser Ansatz der Massenverwaltung ist völlig veraltet und kontraproduktiv.

Ich erlebe immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sagen, warum soll ich mich an den Personaler bei uns wenden, jetzt habe ich ihn schon fünf Mal angesprochen, wie es mit mir weitergehen kann, und immer werde ich vertröstet oder er weiß selbst gar nicht genau, wovon ich eigentlich rede.

Dr. Astrid Dobmeier ist Systemische Beraterin, Therapeutin, Coach, Supervisorin und Organisationsentwicklerin. Sie begleitet Frauen und Männer aus Großkonzernen und mittelständischen Unternehmen in Coachings und Veränderungsprozessen.

Danke an Kathrin Stetter

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Dr. Astrid Dobmeier hat dieses Interview Ende 2018 gegeben. Weit entfernt davon, dass die Thesen, die darin erwähnt wurden, von heute auf morgen Dringlichkeitscharakter bekommen würden. In und nach Corona bleibt sie bei ihren Thesen und Antworten.

 

 

 

DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.