Im Hier und Jetzt der digitalen Gesellschaft

Richard David Precht by Amanda Berens

Richard David Precht. Foto: Amanda Berens

DeSelfie kommentiert und verlinkt in der Rubrik “Herausgepickt” interessante Artikel, Projekte und Menschen für Schnell-Leser. Heute ein paar Zitate aus einem Interview im SZ-Magazin, das Sven Michaelsen mit Philosoph Richard David Precht geführt hat. Inwiefern decken sich seine philosophischen Betrachtungen mit unseren Beobachtungen aus Coaching und Beratung mit Einzelpersonen, Paaren, Familien und Teams?

Über Lobhudelei beim eigenen Kind

“Jede noch so mittelmäßig künstlerische Betätigung eines Kindes wird von den Eltern reflexhaft über den grünen Klee gelobt. Diese Kinder scheitern später an ihrer fehlenden Frustrationstoleranz. Weil ihnen ständig ein Riesentalent prophezeit wurde, geben sie beim kleinsten Hindernis auf. Insofern gibt es wohl tatsächlich Kränkungen, die produktiv sind.”

Das ist eine Entwicklung, die wir auch in den Beratungen mit Paaren, Familien und auch mit Führungskräften beobachten: Eltern haben ihren Kindern Selbstbewusstsein, Lob und Stärkung in ihrer Erziehung mitgegeben. Trotzdem erleben sie diese als junge Erwachsene häufig desorientiert und desillusioniert. Und wenig kritikfähig. Schnell beleidigt. Überfordert. Was die jungen Erwachsenen in diesem Fall selbst beklagen, ist die Qual der Wahl und ein fehlendes Gefühl für Priorisierung und Sinn.

Über eine Zeit, in der die Menschen lieber fühlen als denken

“Das war nie anders. Nur waren Gefühlswelten früher nicht öffentlich, sondern unschicklich und unsittlich. Man sprach nicht über Gefühle. Heute tut man es pausenlos, vor allem in den Medien”.

Die Frage ist auch: Welche Qualität hat das Sprechen über Gefühle – und welche Gefühle werden adressiert? Sind das “wahrhaftige” Gefühle – der Konstruktivismus lehrt uns, jede Wirklichkeit ist zutiefst subjektiv – oder jene, die lediglich für die Öffentlichkeit produziert werden, um wiederum bestimmte Reaktionen hervorzurufen?

Über deutsche Alltagskultur und Klagen und Motzen

Jaeger Hirten Kritiker von Richard David Precht

“Fröhlichkeit und Lebensgenuss haben in Deutschland massiv zugenommen. Der klassische Mecker-Opa, der fußballspielende Kinder vom Garagenhof vertreibt, ist nahezu ausgestorben. … Heute wird nicht mehr gemotzt, sondern weniger.”

Über die Beschäftigung mit dem eigenen Glück

“Die größten Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte ist, dass die Menschen sich ausgiebig mit der Frage beschäftigen, was sie glücklich machen könnte. Der Boom von Esoterik, fernöstlicher Philosophie und Ratgeberliteratur ist eine Folge des gestiegenen Volkswohlstands. Nur wer genügend Geld und Zeit  hat, beschäftigt sich mit dem Glück.”

Absolut nachvollziehbar, auch aus Sicht der Klienten, die wir begleiten. Scheinbare Luxusfragen können sich zu einer existenziellen Sinnkrise ausweiten. Weil auf einer Ebene tiefer mehr dahinter steckt als das sogenannte “Präsentierproblem”. Dafür braucht es auch kritische Fragen an sich selbst. Fragen zur eigenen Geschichte, zur Erziehung und den Werten, die uns vorgelebt wurden und die wir selbst leben.

Zum Wunsch nach Individualität und das Vorführen durch Instagram

“Wenn alle anders sein wollen als die anderen, sind sich alle darin gleich. Früher konnten sich nur der Adel und wenige reiche Bürgerliche zur Schau stellen. Für den großen Rest war das Leben eine einzige Plackerei mit 16 Arbeitsstunden am Tag. Dazu kam die Deckelung durch Kirche und Staat. Heute kann jeder Zeit seines Lebens ein verzogenes Kind bleiben und nur das tun, worauf er Bock hat.”

Bezogen auf Instagram oder Snapchat finden wir das eine interessante These. Denn wenn jeder seine Instagram-Pics mit der gleichen Bildbearbeitungs-App bearbeitet, sehen wiederum alle gleich aus: gleich gut oder gleich schlecht. Das liegt im Auge des Betrachters. Hier stellen sich Fragen wie: Was macht das mit unserem Selbst- und Fremdbild? Was tun wir mit dem Datenmaterial? Was werden unsere Nachfahren mit den vielen digitalen Artefakten tun? Wie erleben wir das physische Gegenüber, wenn es uns ungeschminkt und unbearbeitet gegenübersitzt? Wie fühlt sich physisches Gegenüber überhaupt an?

Analoge und digitale Welt

“Junge Menschen erleben in der analogen Realität immer weniger, weil sich ihr Leben zum großen Teil in der Digitalwelt abspielt. Deshalb werden sie auch leider immer ängstlicher, zumindest viele von ihnen. Das Urlaubshotel schaut man sich vorher in einem virtuellen Rundgang an, in fremden Städten verhindert Google Maps, dass man sich verirrt. Der überraschende oder irritierende Zufall wird abgeschafft, man spricht niemanden mehr an.”

Ein Punkt, den wir als Lehrbeauftragte an Hochschulen häufig diskutieren: Sollen wir junge Schüler und Studierende noch früher und häufiger an das Digitale heranführen? Ist es wichtig, dass Lehrer und Lehrende lustige Abstimmungs-Apps im Unterricht verwenden, auflockernde Filmchen zeigen, E-Learning anbieten, sich über Facebook vernetzen und 24/7 zur Verfügung stehen?

Was wir bereits erkennen ist: Junge Menschen verfügen über eine hohe Switch-Kompetenz auf verschiedenen Kommunikationsebenen. Sie können schnell bewerten, klicken, zappen. Das hat Auswirkungen auf die  Aufmerksamkeitsspanne. Einen Text lesen, der länger als drei Seiten ist? Teilweise eine echte Herausforderung. Auch das braucht viel Übung. So wie der Umgang mit Sozialen Medien.

Hier Richard David Prechts Buch Jäger, Hirten, Kritiker – Eine Utopie für die digitale Gesellschaft.

Philosophische Runden Richard David Prechts in der ZDF-Mediathek.

Auch interessant?

Wer sich mit den Fragen zur digitalen Gesellschaft beschäftigt, kommt auch irgendwann an Hirnforscher Gerald Hüther nicht vorbei.

Aus Sicht des Londoner Psychiaters Eia Asen ist eine der Kernkompetenzen die des Mentalisierens. Ich versetze mich in den anderen hinein  – und versuche zu verstehen, was das mit mir selbst macht. Hier ein Interview mit ihm, das DeSelfie-Herausgeberin Dr. Astrid Dobmeier mit ihm geführt hat.

DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.