Hochsensibilität: Definition, Forschungsstand, Vorteile, Nutzen und Strategien im Umgang kennenlernen

Hochsensibilität by Michael Ruiter (pexels.com)

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„Du bist aber sensibel“ oder „sei doch nicht so emotional!“ Hochsensible Menschen bekommen solche und ähnliche Sätze häufig zu hören. Bereits von Kindheit an wird ihnen häufig vermittelt, sie seien irgendwie anders oder etwas stimme nicht mit ihnen. Wer hochsensibel ist, unterscheidet sich tatsächlich vom Großteil der Bevölkerung. Schlechter ist diese Eigenschaft jedoch definitiv nicht. Ganz im Gegenteil! In Zeiten wie diesen, die von schnellen Veränderungen geprägt sind, kann Feinfühligkeit ein großer Vorteil sein. DeSelfie-Autorin Charlotte Friedrich über Feinfühligkeit als Kompetenz.

Mehr und mehr Studien gewähren Einsicht in die Vorteile, die eine erhöhte Sensibilität mit sich bringt. Für den Einzelnen und, aus evolutionsbiologischer Sicht, auch für Gruppen. Doch nach wie vor ist das Thema Hochsensibilität wenig bekannt. Sogar unter den Feinfühligen selbst. Und das, obwohl diese geschätzt 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Außerdem tragen populärwissenschaftliche Quellen meist mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung bei und können Vorurteile und Missverständnisse sogar noch vertiefen.

Definition von Hochsensibilität

Als Elaine Aron Ende der 1990er Jahre den Begriff der „Hochsensiblen Person“ prägte, um besonders feinfühlige Menschen zu beschreiben, war Sensibilität noch kaum erforscht. Doch inzwischen gibt es eine ganze Menge Studien, die Arons damalige Erkenntnisse bestätigen und erweitern.

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensibilität beschreibt ein genetisches Temperamentsmerkmal. Menschen mit diesem speziellen Temperament haben ein sensibleres Nervensystem. Und sie reagieren stärker auf äußere und innere Reize und empfinden daher zum Beispiel Gerüche oder laute Geräusche stärker oder nehmen Emotionen ihrer Mitmenschen deutlicher wahr.

Koffein, Müdigkeit oder Hunger beeinflussen sie mehr als weniger sensible Menschen. Zudem verarbeiten sie Informationen tiefer und tendieren dazu, in neuen Situationen erst einmal innezuhalten, um sich ein Bild von der Lage zu machen, anstatt sofort zu reagieren. Gleichzeitig zeigen sie selbst häufiger emotionale Reaktionen. Insbesondere Empathie. Schließlich nehmen sie selbst subtile Veränderungen in ihrer Umgebung wahr.

Hochsensible müssen nicht introvertiert sein

Und eine Folge davon ist, dass sich ihre kognitiven Ressourcen schneller erschöpfen und sie sich in einer Welt, die auf weniger feinfühlige Menschen ausgerichtet ist, schnell überreizt fühlen. Dabei scheint beim Thema Sensibilität besonders dieser Effekt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.

Hochsensible müssen nicht introvertiert sein

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Sensibilität wird häufig mit Überreizung, Schüchternheit oder Introversion verwechselt. Dies liegt vermutlich daran, dass das Konzept zuerst in diesem Zusammenhang untersucht wurde. Zum Beispiel von Carl Jung, dem Begründer der Tiefenpsychologie. Doch hochsensible Menschen müssen nicht introvertiert sein oder vermehrt negative emotionale Stimmungen erfahren. 30 Prozent der Feinfühligen sind extravertiert und nicht jeder Introvertierte ist auch hochsensibel.

 

Hochsensibilität als Temperamentsmerkmal

Hochsensible Personen berichten tatsächlich häufiger von psychischen Symptomen. Die Wissenschaft assoziiert Hochsensibilität mit dem Serotonin-Transportergen 5- HTTLPR, welches zu einer erhöhten Anfälligkeit für bestimmte psychische Erkrankungen, zum Beispiel Depression und Angst, führen kann. Diese Vulnerabilität tritt jedoch in der Regel nur in Verbindung mit negativen Ereignissen in der Kindheit auf.

Das 5-HTTLPR Gen an sich bringt auch enorme kognitive Vorteile mit sich. Unter anderem eine deutlich bessere Entscheidungsfähigkeit in kritischen Situationen. Ob Feinfühligkeit mehr Vorteilen oder Nachteilen bringt, hängt also auch von den äußeren Umständen ab. Aron betonte dies von Anfang an und beschrieb Hochsensibilität als ein Temperamentsmerkmal, das als Gesamtpaket daherkommt.

Feinfühligkeit als evolutionärer Vorteil

Die aktuelle evolutionsbiologische Forschung bestätigt diese Sicht. Hochsensibilität wurde im Tierreich in über 100 Arten entdeckt und kommt bei bis zu 30 Prozent der jeweiligen Population vor. Eine Eigenschaft, die so weit verbreitet ist, muss evolutionäre Vorteile haben, ansonsten wäre sie bereits längst ausgestorben. Vermutlich handelt es sich bei Hochsensibilität um eine von zwei Überlebensstrategien, die besonders dann zu Vorteilen führt, wenn sie von der Minderheit genutzt wird.

Durch die tiefere und detailliertere Verarbeitung von Reizen haben Hochsensible Zugang zu Ressourcen, die andere übersehen. Sie nehmen Gefahren oder Veränderungen schneller wahr und können ihr Verhalten besser anpassen oder ihre Artgenossen sogar vor Bedrohungen warnen. Sie können Gelerntes besonders schnell auf ähnliche Situationen übertragen. Und dann angemessen reagieren. Erhöhte Sensibilität hat somit eine Reihe evolutionärer Vorteile.

Die Stärken der Sensiblen

Im Alltag zeigen Feinfühlige zudem in der Regel mehr Empathie. Sie haben sehr gute zwischenmenschliche Fähigkeiten und eine ausgezeichnete Intuition. Sie verfügen über ein reiches Innenleben und wissen Musik, Natur, und Kunst oft besonders zu schätzen. Viele Künstler und Kreative sind hochsensibel. Denn durch die erhöhte Aufnahme und die tiefere Verarbeitung von Informationen nehmen sie Trends und kulturelle Strömungen als erste wahr.

Wo andere nur unzusammenhängende Teile sehen, erkennen Sie Muster und Verbindungen. Hochsensible Menschen profitieren zudem ganz besonders von positiven Erlebnissen und Erfahrungen. Eine Erscheinung, die in der Wissenschaft als „Vantage Sensitivity“ bezeichnet wird. Wortwörtlich also den Vorteil beschreibt, der durch Sensibilität entstehen kann. Als Hochsensible haben wir eine ganze Reihe Möglichkeiten, die Vorteile dieser Eigenschaft zu fördern.

Erst einmal ist es wichtig, sich darüber bewusst zu werden, inwiefern die eigenen Denk- und Handlungsmuster einer erhöhten Feinfühligkeit entsprechen oder nicht. Im Anschluss haben wir ein paar Punkte zur Selbstreflexion zusammengestellt.

Strategien zum Umgang mit Hochsensibilität

Diese wesentlichen Strategien können Ihnen helfen:

  1. Lernen Sie sich, Ihren Körper und Ihr Temperament näher kennen. Je mehr Sie über Ihre Sensibilität wissen und darüber, wie Sie auf Reize reagieren, desto besser können Sie Überreizung vermeiden und Ihre Feinfühligkeit zu Ihrem Vorteil nutzen.
  2. Betrachten Sie vergangene Erlebnisse und zukünftige Situationen im Licht dieser neuen Erkenntnisse. So können Sie vielleicht besser verstehen, warum Menschen in bestimmten Situationen unterschiedlich reagieren oder verschiedene Bedürfnisse haben.
  3. Verarbeiten Sie negative Erlebnisse aus Ihrer Kindheit, zum Beispiel die Erfahrung “anders zu sein”. Wenn Sie das Gefühl haben Unterstützung zu benötigen, holen Sie sich diese bei entsprechenden Beratern, die sich mit dem Thema Hochsensibilität auskennen.
  4. Finden Sie die richtige Balance zwischen Stimulation und Ruhe. Lernen Sie, sich Auszeiten zu gönnen und schaffen Sie sich Rückzugsmöglichkeiten.

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Darüber hinaus gibt es eine große Anzahl von spezifischen Strategien, die Sie in verschiedenen Situationen anwenden können. Da Hochsensible keine homogene Gruppe sind, sollten diese Maßnahmen individuell auf Sie und Ihre Lebenslage abgestimmt werden. Je besser Sie sich selbst kennenlernen, umso mehr Möglichkeiten werden Sie entdecken Ihre Feinfühligkeit als Stärke zu nutzen.

Sind Sie hochsensibel?

Machen Sie den Test.

Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen, erfahren Sie hier zum Vertiefen:
Aron, E. N. (2005). Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. München: mvg Verlag

Coaches, die sich mit dem Thema Hochsensibilität auskennen, finden Sie zum Beispiel hier:
http://hsperson.com/resources/coaches/
http://www.hochsensiblepersonen.com/anbieterverzeichnis_hochsensibilitaet/

DeSelfie-Autorin Charlotte Friedrich forschte im Rahmen ihrer Masterarbeit an der UEL London im Bereich Hochsensibilität. Hierbei interessierte sie besonders, wie hochsensible Menschen, die durch ihre Arbeit versuchen, anderen auf dem Weg zu mehr Wohlbefinden zu unterstützen, also zum Beispiel Coaches, Yoga- oder Mediationslehrer, ihre Feinfühligkeit in ihrer Arbeit erleben.
Sie arbeitet zu dem in ihrer Coachingpraxis mit hochsensiblen Menschen. Zählen Sie sich selbst zu dieser Gruppe oder sind aus anderen Gründen an diesem Thema interessiert, können Sie Charlotte Friedrich gerne über die DeSelfie Redaktion persönlich kontaktieren.

Quellen

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Aron, E. (1996). The highly sensitive person: How to thrive when the world overwhelms you. New York: Broadway Books.

Aron, E., & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, 73(2), 345–368.

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DeSelfie heißt: Sich selbst auf der Spur sein.